Prozess zum Zugunglück:
Zusammenprall hätte verhindert werden können

10.07.2017 | Stand 03.08.2023, 22:42 Uhr
−Foto: n/a

Erkenntnisse vom dritten Prozesstag: Gravierende Fehler des Angeklagten, ein unpräzises und veraltetes Regelwerk der Bahn und ein umständliches Notrufsystem führten zur Kollision.

TRAUNSTEIN/BAD AIBLING Der 40-jährige Fahrdienstleiter, der sich derzeit wegen des Bahnunglücks von Bad Aibling am 9. Februar 2016 mit zwölf Toten und 89 Verletzten vor der Zweiten Strafkammer am Landgericht Traunstein verantworten muss, hat wohl gravierende Fehler gemacht. Andererseits wird von einem Fahrdienstleiter, der in einem Stellwerk in Personalunion zeitgleich für mehrere Bahnhöfe zuständig ist, viel verlangt. Und: Das Regelwerk der Bahn ist unpräzise und teils veraltet. Hinzu kommt das umständliche Notrufsystem mit zwei Notrufen, von denen einer die Zugführer überhaupt nicht erreicht. Das waren die wesentlichen Erkenntnisse der Gutachten.

Der Prozess wird am 28. November sowie am 1., 2. und 5. Dezember, jeweils um 9 Uhr, fortgesetzt.

Rüdiger Muschweck, Leiter der Unfalluntersuchungsstelle der Deutschen Bahn für Bayern in Nürnberg, verwies auf 40 Jahre Bahnerfahrung, darunter auch als Fahrdienstleiter. Die Mangfalltalbahn zwischen Holzkirchen und Rosenheim, eine eingleisige elektrifizierte Bahnstrecke, wurde nach seinen Worten 1857 in Betrieb genommen und 1971 modernisiert. Nur an drei Bahnhöfen – in Heufeld, Bad Aibling und Kolbermoor – mit mindestens eine Weiche und nur auf bestimmten Gleisen dürfen sich gegenläufige Züge kreuzen. Die Höchstgeschwindigkeit auf der Strecke beträgt 120 Stundenkilometer. Bei maximal erlaubtem Tempo beträgt der Bremsweg 1 000 Meter.

Wie Muschweck betonte, müssten die Züge eigentlich nicht mit Zugfunk ausgerüstet sein. Der Grund: Zugfunk ist erst ab einer Höchstgeschwindigkeit von 160 Kilometer zwingend vorgeschrieben. Trotzdem sei die Mangfalltalbahn mit Zugfunk ausgestattet.

Mittels Powerpoint-Präsentation vollzog Muschweck die einzelnen Handlungen des Angeklagten am Morgen des Unglücks ab etwa 6.30 Uhr nach. Der Meridian 79505 von Bad Aibling Richtung Kolbermoor hatte damals vier Minuten Verspätung. Rosenheim schickte umgekehrt den pünktlichen Gegenzug 79506 auf die Strecke. Irrtümlich ging der 40-Jährige vom Kreuzen der beiden Züge in Bad Aibling aus. Tatsächlich sah der Fahrplan Kolbermoor als Kreuzungspunkt vor.

Laut Anklage soll der – angeblich durch ein Onlinespiel auf seinem Handy abgelenkte - Fahrdienstleiter im Fahrplan um eine Zeile verrutscht sein. Das könne so nicht sein, meinte Rüdiger Muschweck. Die betreffenden Angaben stünden gleich zwei Spalten getrennt. Der 40-Jährige habe danach einen Fehler beim Stellen der Signale für die Fahrstraßen begangen. Das sei in Bezug auf das spätere Geschehen allerdings ein „Nebenkriegsschauplatz“.

Bei "Soll-Ablauf" wäre einer der Züge zum Stehen gekommen

Am Rande zollte der Gutachter der Kripo Rosenheim Lob, wie sich die Beamten in Bahndinge eingearbeitet hätten. Mehrere weitere Schritte seien in Ordnung gewesen. Dann jedoch habe der Fahrdienstleiter die Reihenfolge der Züge geändert. Muschweck erläuterte detailliert die Stellung der Signale in Soll und Ist. Er fuhr fort: „Der Fahrdienstleiter muss nicht dauernd auf den Stelltisch starren. Er hat ja auch anderes zu tun. Aber er muss beobachten, ob das geschieht, was er will. Wenn etwas nicht geschieht, muss er die Ursache finden.“

Hätte der 40-Jährige den Soll-Ablauf berücksichtigt, wäre einer der Züge zum Stehen gekommen. Im „Regelwerk 408“ sei klar definiert, ein Zug dürfe nicht von einem Zug der Gegenrichtung beansprucht sein. Der Fahrdienstleiter im Stellwerk Bad Aibling sei zeitgleich in Personalunion Fahrdienstleiter für die Bahnhöfe Bad Aibling und Kolbermoor: „Er muss Entscheidungen mit sich selbst ausmachen. Hätten wir zwei Fahrdienstleiter, müssten sie miteinander kommunizieren.“

Im Störungsfall werde von einem Fahrdienstleiter sehr viel verlangt. Das Regelwerk sei „ganz schön vertrackt“. Eine „Einzelräumungsprüfung“ habe der Angeklagte durch eine unzulässige „Blockabschnittsprüfung“ ersetzt. Beide Blockabschnittssignale seien nicht aufgelöst gewesen. Den Zug 79505 hätte er anweisen müssen, auf Sicht, also maximal 40 Stundenkilometer schnell, zu fahren. Der Gutachter wörtlich: „Bei jedem Schritt hätte der Fahrdienstleiter merken müssen, dass etwas nicht passt.“

Fataler Fehler: Notruf über den falschen Zugfunk

Fataler Fehler sei der Notruf über den falschen Zugfunk gewesen - den nur Leute auf der Strecke, nicht aber die Triebfahrzeugführer hören konnten: „Dann wären beide Züge gestanden, etwa 700 Meter voneinander entfernt.“ Muschweck übte massive Kritik an der Bahn: „Alle gehen von aus, auf der Mangfalltal-Strecke gibt es ein Zentralblock-Sicherungssystem, und dessen Regeln sind anwendbar.“ Das stimme aber nicht. Ein Zentralblock-System erfordere zwingend eine Erlaubnisabhängigkeit.

Die Regelungen seien widersprüchlich: „Was soll mein armer Fahrdienstleiter anwenden – die Bestimmungen für Zentralblock oder die für Selbstblock?“ An anderer Stelle sagte der Gutachter: „Der Fahrdienstleiter hängt in der Luft. Die Unterlagen der Bahn sind unvollständig und interpretationsbedürftig.“ Im Stellwerkstisch Bad Aibling sei außerdem „eindeutig ein Schaltfehler“ gewesen.

Auf Frage von Vorsitzendem Richter Erich Fuchs stufte Muschweck Bad Aibling als „ganz normales Stellwerk“ ein, das technisch funktioniert habe und einen Fahrdienstleiter „im Regelfall nicht überfordert“.

Als unabhängiger, von der Staatsanwaltschaft beauftragter Gutachter für Schienenfahrzeuge nahm Martin Will aus Stuttgart auch die Frage unter die Lupe, ob der Unfall hätte vermieden werden können. Er hatte alle nur verfügbaren Informationsquellen herangezogen, darunter aus beiden Zügen insgesamt drei „Redboxes“, die eigentlich nur der Herstellerfirma 180 verschiedene Daten für die Systemanalyse liefern sollten.

Durch Fehlentscheidungen Sicherheitssystem mit Zwangsbremsung außer Betrieb gesetzt

Gewonnen habe er eine widerspruchsfreie Datenlage zu Ort, Zeiten und Geschwindigkeit der Züge. Will führte den Begriff „Zs1“ ein, der für ein Ersatzsignal steht – das den Schienenbetrieb trotz Störungen flüssig halten soll. Es ordnet an, ohne schriftlichen Befehl an einem gestörten Signal vorbeizufahren.

Der 40-Jährige hatte zweimal ein „Zs1“ gegeben – was er nicht hätte tun dürfen, ohne sich vorher zu vergewissern, dass die betreffende Fahrstraße frei war. Mit diesen Fehlentscheidungen setzte er das Sicherheitssystem mit automatischer Zwangsbremsung der Züge außer Betrieb – so sinngemäß das Fazit Wills. Den Führern der Triebfahrzeuge sei keinerlei Vorwurf zu machen.

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