Retten geht vor
Trotz Corona ist jeder zur Ersten Hilfe verpflichtet

05.05.2020 | Stand 24.07.2023, 12:20 Uhr
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Keine Angst vor lebensrettenden Sofortmaßnahmen in der COVID-19-Krise: Heimisches Rotes Kreuz darf zwar vorerst keine Kurse anbieten, gibt aber einfache Tipps, wie man trotz Corona Leben rettet

Landkreis. Trotz der sehr großen Nachfrage unter anderem für dringend benötigte Führerscheine darf das Rote Kreuz aufgrund der durch die COVID-19-Krise bestehenden gesetzlichen Vorgaben derzeit noch keine Erste-Hilfe-Kurse anbieten, da die geschulten Maßnahmen von den Teilnehmern auch vor Ort in der Gruppe geübt werden müssen und dabei der Mindestabstand nicht eingehalten werden kann. Das heimische Rote Kreuz hat auf Empfehlung der Berufsgenossenschaften und seines Bundesverbands deshalb sämtliche Kurse in Erster Hilfe bis Ende Mai abgesagt.

Dennoch nimmt die Hilfsorganisation ihre Verantwortung ernst und gibt einfache Tipps, da viele Menschen verunsichert sind und Angst haben, sich bei Erster Hilfe mit dem SARS-Cov-2-Virus anzustecken. „Ohne den entscheidenden Zeitvorteil von handlungssicheren Ersthelfern vor Ort hätten wir im Rettungsdienst aber oft keine Chance, ein Leben zu retten, da wir automatisch immer zu spät kommen, wenn beispielsweise bei einem Bewusstlosen oder einer Wiederbelebung jede Minute zählt“, betont Ausbildungsleiter und Notfallsanitäter Hermann Scherer, der zugleich Leiter der Rettungswache Berchtesgaden und stellvertretender Abteilungsleiter für den Rettungsdienst und Krankentransport des BRK-Kreisverbands ist.

Auch in Zeiten von Corona ist es wichtig, dass die Ersthelfer vor Ort rasch und richtig reagieren. „Es gibt keinen Grund, bei akuten Erkrankungen den Notruf 112 nicht zu wählen“, betont auch der Bundesarzt des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) und BRK-Landesarzt, Prof. Dr. med. Peter Sefrin. Der Notruf sollte immer zuerst gewählt werden, um rasch weitere Hilfe anfordern zu können. Die Mitarbeiter in den Integrierten Leitstellen sind geschult, jeden Anruf nach gewissen Parametern abzufragen und finden so schnell heraus, ob wirklich Zeitdruck wegen starker Schmerzen oder gesundheits- und lebensgefährdender Erkrankungen oder Verletzungen besteht. Somit ist gewährleistet, dass bei echten Notfällen schnell die richtigen Helfer zum Einsatz geschickt werden. Der Gedanke, das Gesundheitssystem durch einen nicht getätigten Notruf entlasten zu wollen, ist zwar solidarisch und gut gemeint, aber nicht verhältnismäßig.

Insgesamt passiert schon seit Ende März auch im Berchtesgadener Land weniger, da die meisten Menschen aufgrund des Appells der Einsatzkräfte insgesamt in allen Lebensbereichen allgemein vorsichtiger sind – niemand will derzeit das Gesundheitssystem belasten oder sogar selbst in die Klinik gebracht werden. Hauptgrund für die derzeit in der Praxis vom Roten Kreuz zusätzlich beobachtete Zurückhaltung beim Notruf scheint vor allem die Angst von Betroffenen und Angehörigen zu sein, sich im Krankenhaus mit Corona anzustecken. Dennoch appelliert Sefrin: „Nehmen Sie entsprechende Krankheits-Symptome ernst. Die Sorge, sich im Krankenhaus anzustecken, ist nicht berechtigt, da schon in den Notaufnahmen eine strenge Trennung zu den Infizierten vorgenommen wird.“ Sowohl im Rettungsdienst als auch in den Krankenhäusern wird größter Wert auf die Einhaltung von Hygienestandards gelegt.

Bei lebensbedrohlichen Notfällen wie Herzinfarkt und Schlaganfall zählt jede Minute und einen Verletzten auf der Straße oder im Gelände kann man auch nicht einfach liegen lassen: Wenn die Behandlung verspätet beginnt, ist nicht auszuschließen, dass es zu schwerwiegenden Dauerschäden oder zum Tod kommt – sogar ein gebrochener Fuß, an dem man normal eigentlich nicht sterben würde, wird kritisch, wenn dem Patienten wegen des Mindestabstands niemand helfen würde, da man derzeit bei Außentemperaturen im einstelligen Bereich ohne Bewegung sehr rasch eine lebensgefährliche Unterkühlung bekommt.

Hermann Scherer erklärt, wie man trotz Corona selbst effektiv Erste Hilfe leisten kann, obwohl man Angst vor einer Ansteckung hat und eigentlich zu Fremden den Mindestabstand von eineinhalb Metern einhalten sollte. Es ist eine Situation, wie sie jedem passieren kann: Auf dem Weg zum Supermarkt ereignet sich ein Unfall. Eine Radfahrerin ist gestürzt und liegt nun reglos am Boden. Sie braucht Erste Hilfe. Aber was tun in Zeiten von Corona, auch in Sachen Selbstschutz? Scherer hält regelmäßig Kurse in Erster Hilfe und Wiederbelebung. Er animiert die Ersthelfer: „Im Endeffekt hat sich aufgrund der Krise nicht viel verändert. Ich bin also immer noch verpflichtet, Erste Hilfe zu leisten.“ Jeder von uns kann von einem Notfall betroffen sein und ist froh, wenn ihm schnell geholfen wird, denn dabei zählt jede Sekunde. Je früher die Hilfe einsetzt, desto besser.

Risikopatienten müssen wenigstens den Notarzt rufen

Wer beispielsweise Risiko-Patient ist und aus diesem Grund Angst hat, sich mit dem Virus anzustecken, der muss mindestens den Notruf wählen – in Deutschland ist die Notrufnummer hierfür die 112 - im Grenzgebiet hat das Handy oft österreichisches Netz, dann kann man direkt auch die 144 wählen. Auch jeder andere Ersthelfer ist verpflichtet, zumindest den Notruf zu tätigen. Bis zum Eintreffen der Rettungskräfte soll der Ersthelfer an der Einsatzstelle bleiben – dabei kann immer der Mindestabstand eingehalten werden. „Letzten Endes handle ich nach meinen eigenen Fähigkeiten und Werten und reagiere so, wie ich es kann und gelernt habe. Diese Entscheidung fällt jeder Ersthelfer für sich selbst“, erklärt Scherer. „Zuerst sollte sich nur ein Ersthelfer dem Verunfallten mit eigenem Mundschutz nähern, wenn er das Risiko eingehen will und kann. Dann erfolgt die Ansprache: „Hallo, hören Sie mich?“ Aktuell kann man zusätzlich fragen, ob der Verunfallte sich krank fühlt oder COVID-19-Symptome hat und das Risiko dann weiter abwägen; die Einsatzkräfte machen das derzeit genauso. Wenn hier keine Reaktion des Patienten erfolgt, kann man ihn an den Schultern rütteln.

Bleibt der Patient nicht ansprechbar, sollte die Atmung kontrolliert werden. „Normalerweise beuge ich hier den Kopf nackenwärts, also nach hinten ins Genick und gehe dann mit dem Ohr ganz nah an den Mund, um die Atmung zu hören“, erklärt Scherer. Wer mit dem eigenen Gesicht nicht ganz so nah an das des anderen möchte, könne auch versuchen, den Brustkorb zu beobachten und eine Hand über den Mund des Patienten zu legen, um eine eventuelle Atmung zu spüren.

Danach gibt es unterschiedliche Vorgehensweisen – je nachdem, ob der Patient atmet oder nicht. Atmet er, sollte er sofort in die stabile Seitenlage gebracht werden – aus Schutz vor dem Ersticken durch verengte oder sogar blockierte Atemwege. Erst danach empfiehlt es sich, die 112 zu wählen.

Atmet er nicht, sollte zuerst der Notruf gewählt und dann aber sofort mit Wiederbelebungsversuchen begonnen werden. „Zuerst die Kleidung öffnen, zur Not aufreißen, damit keine Zeit verlorengeht und den Ballen einer Hand auf das untere Drittel des Brustbeins platzieren, das ist dann genau die Mitte des Brustkorbs. Den Ballen der anderen Hand auf die erste Hand aufsetzen und die Finger verschränken. Die Arme des Helfers sind komplett durchgestreckt und der Brustkorb wird senkrecht von oben durch Gewichtsverlagerung des eigenen Oberkörpers 30 mal mindestens fünf bis maximal sechs Zentimeter tief eingedrückt – relativ flott mit einer Arbeitsfrequenz von mindestens 100 bis maximal 120 mal pro Minute – das wird richtig anstrengend, weshalb man sich mit weiteren Ersthelfern mehrmals abwechseln sollte. „Für das richtige Tempo kann es helfen, innerlich den Song Staying Alive zu summen. 30 mal drücken, danach zweimal beatmen!“, rät Scherer. Wer aktuell wegen Corona nicht beatmen möchte oder es sich generell nicht zutraut, sollte einfach nur drücken, bis der Rettungsdienst eintrifft, da es entscheidend ist, dass ein Blutkreislauf erhalten bleibt. „Die Pflicht zur Ersten Hilfe bedeutet also: Zumindest einen Notruf absetzen - und danach das zu tun, was man sich selbst zutraut und der Disponent in der Leitstelle sagt. Und das gilt immer, nicht nur in Zeiten von Corona!“, fasst Scherer zusammen.

Das Rote Kreuz hat sämtliche Kurse in Erster Hilfe bis Ende Mai abgesagt. Darunter fallen auch die Kurse für Führerscheinbewerber, die Kurse und Fortbildungen für Betriebe sowie für Kindernotfälle. „Wir tragen eine große Verantwortung für die Menschen und es wäre leichtsinnig, derzeit Kurse durchzuführen“, sagt Scherer. Wann die nächsten Kurse stattfinden und welche organisatorischen Änderungen sich aufgrund der aktuellen Situation ergeben, kann auch er momentan noch nicht abschätzen. Die kursfreie Zeit nutzt die Organisation, um die bestehenden Kurs-Konzepte zu überarbeiten und die Hygiene-Standards an die neuen Gegebenheiten anzupassen. Aktuell werden die Erste Hilfe-Ausbilder per eLearning und Video-Konferenzen auf die neue Situation und COVID-19-Risiken geschult. „Sobald das Okay von der Regierung und unseres Landesverbandes kommt, werden wir auch kurzfristig einiges an Kursen anbieten können, um dem Bedarf, speziell für die Führerscheinbewerber, gerecht zu werden“, versichert Scherer. Die neuen Termine werden auf www.brk-bgl.de und auf der Facebook-Seite des BRK-Kreisverbands bekanntgegeben.

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