Peter Weibel
„(Post-)Europa?“ – Ausstellung im Kunstforum Ostdeutsche Galerie ehrt den Lovis-Corinth-Preisträger 2020

02.10.2020 | Stand 24.07.2023, 20:41 Uhr
−Foto: n/a

Peter Weibel ist ein Multitalent. Als Künstler, Kunsttheoretiker und Kurator prägt er seit den 1960er Jahren die Szene der Medienkunst. In seinen Aktionen, Experimentalfilmen, Video- und Computerinstallationen äußert er sich kritisch in Bezug auf Gesellschaft und Politik. Die Ausstellung im Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg findet anlässlich der Verleihung des Lovis-Corinth-Preises 2020 an Peter Weibel statt.

Regensburg. Sie führt sein vielschichtiges Schaffen von den Anfängen bis heute vor Augen. Das Leitmotiv der Präsentation unter dem Titel „Peter Weibel – (Post-)Europa?“ sind kritische Fragen rund um das Thema „Europa“. Da die Vernissage situationsbedingt nicht öffentlich sein kann, lädt das KOG am Wochenende, 3. und 4. Oktober, zum eintrittsfreien Eröffnungs-Wochenende ein. Ein Mitschnitt der Eröffnung mit Preisverleihung und Laudatio durch Bazon Brock wird auf der Website des KOG veröffentlicht.

Im Laufe seiner Karriere erprobte Peter Weibel (geboren 1944 Odessa) verschiedenste Medien, um seine Inhalte zum Ausdruck zu bringen und um die Betrachterinnen und Betrachter zum Mitwirken an seinen Werken zu bewegen. Sein Laudator Bazon Brock beschreibt Weibel im Zusammenhang mit der Verleihung des Lovis-Corinth-Preises 2020 als „Zentralfigur der gegenwärtig möglichen Synthese von Schöpfung und Arbeit, von Dichten und Denken, von Heiterkeit und Tiefe, von Freiheit und Notwendigkeit.“

Das Kunstforum Ostdeutsche Galerie ehrt den Preisträger mit der umfangreichen Ausstellung „Peter Weibel – (Post-)Europa?“. Eine Auswahl an knapp 70 Werken gibt einen Überblick über Weibels Schaffen seit Ende der 1960er Jahre. Sie spannt den Bogen von Weibels frühesten Aktionen im öffentlichen Raum, über seine wichtigsten Video-Arbeiten und Klangexperimente bis hin zu neuesten Augmented-Reality-Visualisierungen. Die vielfach interaktiven Installationen bescheren den BesucherInnen ein vielfältiges Sinneserlebnis.

Als Kind in schwierigen Verhältnissen im Flüchtlingslager, Heimen und Pflegefamilien aufgewachsen, stürzte sich Peter Weibel – wie er selbst schildert – wissbegierig auf jegliche zugänglichen Informationen aus dem Bereich Kultur und Wissenschaft. Sein Studium umfasste ein breites Spektrum an Fachrichtungen von Filmwissenschaft und Komparatistik, über Medizin bis hin zu Mathematik. Hier spezialisierte er sich auf die Logik – die Grundlagen der erst später aufkommenden Informatik, Computerwissenschaft und Kybernetik.

Seine ersten öffentlichen Auftritte veranstaltete Peter Weibel auf der Straße. Die unangekündigten Performances bezeichnete er absichtlich nicht als Kunst, um eine unmittelbare Wirkung zu erzielen. Oft kam es zu Konflikten mit der Polizei und Justiz, die er wiederum zum Thema weiterer Arbeiten machte. Legendär wurde die Aktion „Aus der Mappe der Hundigkeit“ von 1968, bei der sich Weibel von seiner damaligen Partnerin und Medien- und Performance-Künstlerin Valie Export an der Leine führen ließ. Künstlerisch bewegte sich Weibel in dieser Zeit zwischen den drei wichtigsten Avantgardebewegungen im Österreich der Nachkriegszeit: Er stand den Wiener Aktionisten nahe – einer Bewegung, für die er der Namensgeber war. Gleichzeitig gab es Überschneidungen mit dem sogenannten Wiener Formalfilm sowie mit experimentellen Dichtern wie Ernst Jandl und Friederike Mayröcker.

Eine große Reichweite erzielte Weibel 1972 mit seinen „teleaktionen“, die vom österreichischen Fernsehen (ORF) ausgestrahlt wurden. Ende der 1970er Jahre entdeckte er ein weiteres Medium für sich – die Musik. Mit seiner Zwei-Mann-Band „Hotel Morphila Orchester“ veranstaltete er Konzerte. Ab den 1980er Jahren setzte Weibel zunehmend Computer ein: Zunächst zur Bearbeitung von Videomaterial, später für erste interaktive Installationen. Weibel bezeichnet sich selbst als den „Mann der Ideen“. Als Ideengeber wirkte und wirkt Weibel in verschiedenen Institutionen. So baute er das Institut für Neue Medien an der Städelschule in Frankfurt am Main auf. Er war künstlerischer Berater und Leiter der Ars Electronica in Linz und seit 1999 ist er Vorstand des ZKM, Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe. Seine umfassende Kuratorentätigkeit ist im ersten Ausstellungsraum der Regensburger Präsentation dargestellt. Als Theoretiker betont Weibel besonders die Verbindung zwischen Kunst und Wissenschaft.

„Aus Sorge um Europa habe ich mich für den Titel entschieden,“ antwortet Peter Weibel im Interview mit Direktorin Dr. Agnes Tieze auf die Frage nach dem Motto der Ausstellung im Kunstforum Ostdeutsche Galerie. Weibel nimmt Bezug auf die aktuelle vielschichtige Krise Europas, die er als Folge einer andauernden Destabilisierung durch die beiden Weltkriege sowie durch das Geschehen danach versteht. Die Ausstellung trägt einige von Weibels Werken zusammen, in denen er sich mit Europa beschäftigt. Rückblickend fallen insbesondere seine visionären Vorstellungen auf. So bekommt die Installation „Station W – die Welt ein Krankenhaus“ von 2019 angesichts der Corona-Pandemie eine erschreckende Aktualität.

Den thematischen Schwerpunkt bildet der große Ausstellungssaal mit einigen großflächigen Installationen. Der „Europa(t)raum“ von 1983 besteht aus überdimensionalen, scheinbar blutverschmierten Messerklingen. Aus einem bestimmten Blickwinkel fügen sich die roten Flecken zur Europa-Karte zusammen. Genau hier ist eine Kamera positioniert, die den Betrachter mit ins Bild holt und ihn auf diese Weise über den durch Nationalismus und Separatismus zerrissenen Kontinent wandeln lässt.

Die „Vertreibung der Vernunft“ bezieht sich auf ein einschneidendes Ereignis in der Geschichte Mitteleuropas: die Vertreibung österreichischer Kulturschaffender und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler jüdischer Herkunft zwischen 1933 und 1945. Die Ergebnisse seiner langjährigen biografischen Recherchen führt Weibel in dieser Computer-Video-Installation zusammen. 3.500 Kurzbiografien laufen über aneinandergereihte Bildschirme wie über ein Förderband. Erstmals präsentierte Weibel die Installation 1993 auf der Biennale in Venedig. Hier endete die Rampe in eimem Hochseecontainer, der an Transportwaggons erinnerte, und die Außenwand des Ausstellungsraumes durchbrach.

Weitere Arbeiten wie „Festung Europa“ von 1994 oder „45 europäische Sockel mit nach innen versenkten Skulpturen“ von 1998 ergänzen den Raum. Die Augmented-Reality-Visualisierung „Bibliotheca Digitalis: Europäische Verfassung. Europe as a Common Home“ von 2020 leitet zur Skulptur „Brennt das Haus Europa?“ im Eingangsbereich über. Weibel hat sie eigens für die Ausstellung entworfen. „Indem ich auf Talos als Gründungsmythos Europas verweise, weise ich auch auf ein anderes Gesicht Europas hin, […] das heißt auf die Idee der Renaissance. Europas Wiedergeburt muss das Ziel sein. Und jeder muss sich in Europa wie in einem Spiegel wiedererkennen. Jeder ist für die Zukunft Europas verantwortlich“, fasst Weibel seine Idee zusammen.

Aufgrund der aktuellen Hygieneauflagen kann die Vernissage, mit der das KOG zugleich sein 50-jähriges Bestehen feiert, nicht als öffentlich zugängliche Veranstaltung stattfinden. Deshalb lädt das Museum zum eintrittsfreien Eröffnungswochenende ein: Am Samstag und Sonntag, 3. und 4. Oktober 2020, ist die Ausstellung jeweils von 10 bis 18 Uhr zugänglich. Letzter Einlass ist um 17 Uhr. Das Videogrußwort von Prof. Monika Grütters, Staatsministerin bei der Bundeskanzlerin, Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, sowie die Laudatio von Prof. Bazon Brock und die Preisübergabe an Prof. Dr. h. c. mult. Peter Weibel wird im Nachgang auf der Website im Internet unter www.kunstforum.net zu finden sein. Hier kann man sich auch zu Kurzführungen durch die Ausstellung anmelden, die zurzeit lediglich mit einer beschränkten Teilnehmerzahl angeboten werden.

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