Am Einstieg des Pidinger Klettersteigs:
Große Lawinenübung bei schlechtem Wetter

11.07.2017 | Stand 03.08.2023, 8:55 Uhr
−Foto: n/a

Bergwachten des Einsatzleiterbereichs Saalachtal üben auf der Staufen-Nordseite aufwendige Suche, Versorgung und Rettung von Lawinenopfern.

AUFHAM Drei Skitourengeher werden bei der Abfahrt westlich des Einstiegs zum Pidinger Klettersteig auf der Staufennordseite von einer Lawine mitgerissen und verschüttet. 25 Einsatzkräfte der Bergwachten Bad Reichenhall, Freilassing und Teisendorf-Anger haben am Freitagnachmittag bei einer realistisch simulierten Lawinenübung wieder einmal die schwierige und aufwendige Rettung von Lawinenopfer geübt.

Einer der Tourengeher steht etwas geschützt unterhalb eines Felsaufschwungs und muss mit ansehen, wie eine Lawine aus der Nordflanke des Staufens seine drei Begleiter verschüttet. Mit seinem Handy kann er über die vorwahlfreie Notrufnummer 112 bei der Leitstelle Traunstein Hilfe anfordern, woraufhin sofort ein Großeinsatz der Bergwacht anläuft. „Keine Selbstverständlichkeit, denn echte Einsätze zeigen uns, dass Betroffene am Berg oft keinen Empfang haben oder der Akku durch die Kälte nach wenigen Minuten zusammenbricht“, erklärt der Übungsleiter und Ausbildungsleiter der Bergwacht Bad Reichenhall, Martin Neubauer. Zum Glück nicht so bei der Übung, bei der der Melder genaue Informationen über die Anzahl der Verschütteten und den Ort des Unglücks übermitteln kann. Mangels eigenem Lawinen-Verschütteten-Suchgerät (LVS) kann der Melder jedoch selbst nicht die Suche aufnehmen und muss auf der Retter warten. „Durch die fehlende überlebenswichtige Kameradenrettung vergehen wertvolle Minuten, die im Ernstfall über Leben und Tod entscheiden können, weshalb jeder Sportler im winterlichen Gelände immer eine komplette Notfallausrüstung dabeihaben sollte“, betont Bergwacht-Pressesprecher Marcus Goebel.

Lawinenhund führt Retter zum Einsatzort

Nach der Alarmierung der Bergwachten Bad Reichenhall, Freilassing und Teisendorf-Anger schickt Einsatzleiter Jens Oswald den in Anger beheimateten Lawinenhundeführer und stellvertretenden Bereitschaftsleiter der Bergwacht Bad Reichenhall, Stefan Strecker mit seinem Schäferhund Zabo direkt zum Wanderparkplatz in Urwies. Die Bergwacht Teisendorf-Anger baut am Wanderparkplatz eine Schleuse auf, um alle Bergretter, die zur Unglücksstelle gebracht werden sollen, zu registrieren und die Sicherheitsausrüstung auf Vollständigkeit und Funktion zu überprüfen. Mit dem All.Terrain-Vehicle (ATV) der Bergwacht Bad Reichenhall wird das Lawinenhundeteam zum Hubschrauberlandeplatz am Pidinger Klettersteig gefahren, von wo aus Hundeführer und Hund zur darüber liegenden Lawine aufbrechen. Bereits nach wenigen Minuten hat Zabo den Verschütteten-Mimen etwa eineinhalb Meter unter der Schneedecke geortet und Stefan Strecker kann mit dem Ausschaufeln des Bergwacht-Kameraden beginnen. Erst gut eine halbe Stunde später kommt das Reichenhaller ATV erneut am Landeplatz mit zwei weiteren Bergrettern an, darunter ein Bergwacht-Notarzt. So lang dauert die Fahrzeit von der Unglücksstelle zum Wanderparkplatz und zurück. Aufgrund eines technischen Defektes ist das ATV der Bergwacht Teisendorf-Anger ausgefallen, sodass für die Übung nur ein Kettenfahrzeug zur Verfügung steht. Mit herkömmlichen auch allradgetriebenen Fahrzeugen ist die durch den Regen stark vereiste Forststraße zur Steineralm bei dieser Übung nicht befahrbar. „Selbst wenn bei einer Einsatzübung die Situation möglichst realitätsgetreu dargestellt werden soll, geht hier immer noch die Sicherheit aller Beteiligten vor. Bei einem scharfen Einsatz hätte der Einsatzleiter mehrere der vielen anderen ATVs in der Bergwacht Chiemgau sowie Hubschrauber zum Transport alarmiert, um möglichst schnell die notwendigen Einsatzkräfte zur Unfallstelle transportieren zu können,“ erklärt Goebel.

Bei der Suche nach den Verschütteten werden alle Hilfsmittel genutzt

Bis weitere Einsatzkräfte auf der Lawine ankommen, ist der Lawinenhundeführer mit seiner vierbeinigen Spürnase ganz allein auf sich gestellt. Die Hundeführer der Lawinen- und Suchhundestaffel der Bergwacht sind allesamt langjährige, sehr erfahrene Einsatzkräfte, die auch medizinisch einen hohen Ausbildungsstand aufweisen müssen. Neben der Suche nach den Verschütteten gibt der Lawinenhundeführer permanent Informationen und Lagemeldungen an die Einsatzleitung über Funk durch. Nachdem er den ersten Patienten lokalisiert, ausgegraben und eine Erstversorgung durchgeführt hat, wendet er sich der Suche nach den weiteren Verschütteten zu. Nicht so bei dieser Übung, bei der die beiden weiteren Verschütteten durch eine Puppe und ein LVS-Gerät simuliert werden.

Die Logistik ist das Nadelöhr eines Lawineneinsatzes

Aufgrund der eingeschränkten Transportkapazitäten ist ein Großteil der Suchmannschaft vom Wanderparkplatz auf Skiern in Richtung der Einsatzstelle aufgebrochen. Damit wird die Fahrzeit für das ATV, gesteuert vom Reichenhaller Bergwacht-Urgestein Helmut Lutz, immer weiter verkürzt. So kommen mit fortschreitender Zeit in immer kürzeren Abständen die Einsatzkräfte in Zweierteams am Lawinenkegel an. Die Retter suchen mit LVS und einem Halbleiter-Suchgerät den über 200 Meter langen und rund 50 Meter breiten Lawinenkegel nach den beiden weiteren Vermissten ab. „Gerade die Suche mit dem LVS, auch Pieps genannt, ist immens wichtig. Dieses kleine technische Wundergerät ist in der Kameradenrettung bei Lawinenunfällen unverzichtbar, um Verschüttete lebend aus einer Lawine retten zu können“, erklärt Goebel. „Statistisch sind sieben Prozent der Opfer eines Lawinenunglücks bei Stillstand der Lawine aufgrund der mechanischen Einwirkungen bereits verstorben. 30 Minuten nach Stillstand der Lawine sinkt die Überlebenswahrscheinlichkeit bei einer Vollverschüttung auf magere 20 Prozent“, weiß der Reichenhaller Bergwacht-Notarzt Michael Braun. Bis bei einer organisierten Rettung durch die ehrenamtlichen Bergretter die ersten Einsatzkräfte vor Ort sind, ist diese Zeitspanne von 30 Minuten in der Regel abgelaufen. Selbst bei Hubschrauberunterstützung müssen viele glückliche Umstände zusammentreffen, um innerhalb von 15 bis 20 Minuten den ersten Lawinenhund mit Führer auf die Lawine zu bringen. Goebel: „Die Kameradenrettung und damit das Beherrschen des LVS-Gerätes ist bei einem Lawinenunfall das Allerwichtigste.“ Neben dem LVS-Gerät müssen aber immer auch eine Lawinensonde und eine Lawinenschaufel im Rucksack mit dabei sein. Ohne diese Hilfsmittel ist eine Ortung und Rettung von Verschütteten nicht möglich.

Die nachrückenden Einsatzkräfte haben den mit einem LVS-Gerät vergrabenen Rucksack schnell gefunden und geborgen. Allerdings ist immer noch ein Skitourengeher abgängig. Das abermalige Abgehen der Lawine mit dem LVS-Gerät führt zu keinen weiteren Signalen. Auch das Halbleiter-Suchgerät, das auf Bimetalle reagiert, die beispielsweise in Handys oder Stirnlampen verbaut sind, führt nicht zum gewünschten Sucherfolg.

Sondieren sieht so einfach aus

Der Einsatzleiter auf der Lawine ordnet daher eine Sondierung an. Hierfür stellen sich die Bergretter Schulter an Schulter in einer Reihe auf und stechen ihre Sonden im Abstand von 30 Zentimetern in den Schnee, bis sie auf einen Widerstand treffen. „Die Sonden sind aus Metall und innen hohl. Dadurch wird der Klang der Sondenspitze beim Auftreffen auf einen Gegenstand bis an die Schneeoberfläche transportiert. Der geübte Sondierer kann daran einwandfrei erkennen, ob er ein Stück Holz, einen Stein, einen Ski oder eine Person gefunden hat“, erklärt Goebel. Jeder Gegenstand hat einen eigenen, charakteristischen Klang. Was so einfach klingt, ist aber in der Übung sehr komplex - müssen doch alle Sondierer synchron arbeiten: Einstechen, Sonde herausziehen, einen Schritt nach vorne wieder einstechen und immer in den gleichen Abständen zueinander. Auf einer Lawine, mit ihren vielen Unebenheiten ein anstrengendes und zeitraubende Unterfangen. Nach jedem Schritt der Sonden-Mannschaft wird mit kleinen Fähnchen der bereits abgesuchte Bereich markiert, um wirklich die gesamte Lawine ohne Lücken sondieren zu können. Gerade als sich die Sonden-Mannschaft gut eingespielt hat, meldet einer der Retter, dass er eine Person gefunden hat. Während die Sonden-Mannschaft sich zur Übung weiter die Lawine hinauf arbeitet, beginnt der Schaufeltrupp um den Fundort den Schnee abzugraben. In gut einem Meter Tiefe kann die dort vergrabene Puppe aus den Schneemassen geborgen werden.

Anwärter üben das Ablassen am Totmann

Nachdem alle Patienten der Übung geborgen sind, wird eine so genannte Totmann-Sicherung auf dem Lawinenfeld eingerichtet. Hierfür wird ein Paar Ski quer zur Hangrichtung im Schnee vergraben und dient somit als Fix- und Sicherungspunkt. An dieser Sicherung wird das Übungsmaterial als Ballast auf der Universaltrage 2000 zum Hubschrauberlandeplatz unterhalb des Einstiegs zum Pidinger Klettersteig abgelassen. Obwohl die Übung inzwischen seit über dreieinhalb Stunden bei nasskaltem Regen- und Schneewetter läuft, sind alle Bergretter mit Feuereifer dabei und merken gar nicht, dass bereits die Dämmerung hereinbricht. Nachdem die großen Ausrüstungsgegenstände alle auf dem ATV verstaut sind, fahren die Bergretter auf ihren Skiern über die Forststraße zurück zum Wanderparkplatz nach Urwies. Dort werden alle eintreffenden Retter von der Schleuse wieder registriert, um zu gewährleisten, dass niemand fehlt.

Für diese Übung hat die Bergwacht eine eigene Sprechgruppe im Digitalfunk zugewiesen bekommen, und die Funkverbindung erfolgt mit allen Beteiligten völlig problemlos. Zurück in der Reichenhaller Bergrettungswache ist es bereits Nacht und die Ausrüstung muss sortiert, gereinigt und zum Trocknen aufgehängt werden. Inzwischen hat der Stüberlwirt für alle eine Brotzeit hergerichtet, bei der die Erfahrungen nochmals nachbesprochen werden. Übungsleiter Martin Neubauer bedankt sich bei allen Anwesenden für die hervorragende Arbeit, das konstruktive Miteinander und die Disziplin bei Regen im Tal und Schneegestöber an der Eisnatzstelle die gestellten Aufgaben hervorragend abgearbeitet zu haben. Der Einsatzleiter der Übung, Jens Oswald, meinte zum Schluss noch: „Bei einem echten Einsatz können wir uns das Wetter auch nicht aussuchen. Von daher fand die Übung unter realitätsnahen Bedingungen statt!“

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