"Wer beeinträchtigt ist, darf nicht zu gleich benachteiligt werden"
Caritasdirektor Michael Endres: Bewusstsein schaffen für mehr Inklusion

11.07.2017 | Stand 24.07.2023, 18:41 Uhr
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Mehr Zugehörigkeit. Mehr Selbständigkeit. Abbau von Hürden. Miteinander leben und lernen, darf für Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen kein Versprechen bleiben. Deshalb hat der Caritasverband für die Diözese Passau e.V. am Samstag, 1. April, bei der Fachtagung „Mehr Inklusion in Gesellschaft und Region“ geprüft, wie es tatsächlich aussieht.

PASSAU Der neue Passauer Caritasdirektor Michael Endres: „Wer beeinträchtigt ist, darf nicht zu gleich benachteiligt werden“. Irmgard Badura, die Beauftragte der Bayerischen Staatsregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung, betonte: „Inklusion ist eine Frage der Haltung“. Es gehe um eine Gesellschaft, „die Vielfalt als Chance sieht“, um einen „Perspektivenwechsel im Alltag“.

Über 150 betroffene Eltern und Menschen mit Behinderung, Fachleute und Politiker, haben die Lebenswirklichkeit in Familie, Kindertagesstätten, Schulen und Freizeit auf den Prüfstand gestellt. Einhelliges Fazit: wenn Inklusion keine Illusion bleiben soll, müssen zu allererst die Barrieren in den Köpfen und das Defizit-Denken überwunden werden. Dafür will die Caritas sensibel machen; gleichzeitig mit ihren Einrichtungen den Menschen mit Behinderung Lebensmöglichkeiten erschließen.

Michael Endres, der an diesem Tag sein Amt als Caritasdirektor im Bistum Passau antrat: „Alle Kinder und Jugendlichen haben ein Recht auf Entfaltung“. Bei den verschiedenen Entwicklungsschritten dieser Altersstufen müssten sie selbstbestimmt und individuell entscheiden und dann leben können. Mit den politisch Verantwortlichen will der Caritasvorstand das Thema Inklusion mit Blick auf das neue Bundesteilhabegesetz noch stärker verorten.

Badura Irmgard, die Beauftragte der Bayerischen Staatsregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung, fasste es so zusammen: Inklusion als Prozess müsse politisch gewollt sein und zivilgesellschaftlich umgesetzt werden. Ein Schritt sei das Programm „Bayern barrierefrei 2023“. Dafür bedürfe es auch entsprechender Finanzmittel.

Einen großen runden Tisch hatte die Caritas mit den Schulämtern von Stadt und Landkreis Passau sowie dem Sozialpädiatrischen Zentrum der Kinderklinik Dritter Orden organisiert. Bezirkstagspräsident Dr. Olaf Heinrich wies darauf hin: die Gesellschaft lasse sich „nicht auf Knopfdruck“ verändern. Es brauche eine ehrliche Debatte über konkrete Maßnahmen und deren Finanzierung. Der Landtagsabgeordnete Dr. Gerhard Waschler kündigte ein „Bildungspaket“ an, um Inklusion bei allen 120.000 Lehrern in Bayern das Miteinander von Regelschulen und Förderzentren voranzubringen.

Anna Radtke erlebt mehr Barrieren in den Köpfen als auf der Straße

Auch Anna Radtke sieht mehr Barrieren in den Köpfen als auf der Straße, wenn sie mit ihrem Rollstuhl durch Passau fährt. Die 29 jährige hat gelernt, „im echten Leben anzukommen und selbstbewusst zu werden“, als sie vom Förderzentrum für Körperbehinderte an die staatliche Wirtschaftsschule und später an die Fremdensprachschule wechselte. Natürlich wünscht sie sich allein baulich weniger Barrieren.

Wichtiger wäre es für sie aber, dass es mehr Arbeitsplätze für Menschen wie sie gäbe, die aufgrund ihrer Einschränkung nur Teilzeit arbeiten könnten. Heute ist sie mit ihrem Reiseportal für behinderte Menschen selbstständig und checkt Reiseziele nach deren Barrierefreiheit. Dass diese im Berufsbereich sehr eingeschränkt ist, hat sie erlebt. Ihre Selbständigkeit hängt auch damit zusammen, dass sich zu wenige Arbeitgeber auf gehandicapte Menschen einlassen.

Das Fazit der Fachvorträge: Die Haltung ist entscheidend

Inklusion steht und fällt mit der Haltung gegenüber Menschen mit Behinderung. Das war Grundtenor der Sozialmedizinerin Prof. Dr. med. Sabine Stengel-Rutkowski, der Genetikerin Prof. Dr. med. Ursula Rieke, und des Sonderpädagogen Prof. Dr. Reinhard Lelgemann. Nur wenn das Defizit-Denken überwunden werde, sei umzusetzen, was die UN-Behindertenrechtskonvention und die Gesetze festgelegt hätten.

Das gesellschaftliche Klima bestimmt auch, wie sich Eltern entscheiden, wenn sie etwa mit den Ergebnissen der pränatalen Diagnostik vor der schwierigen Entscheidung stehen: ob sie und wie sie mit einem behinderten Kind leben wollen. Rieke verwies dabei auf eine früh einsetzende psychosoziale Beratung. Diese nehme den Paaren die Ängste und könne positive Wege aufzuzeigen. Die soziale Dimension bestimme im Grunde auch, ob es gelingt, behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam zu unterreichten, ergänzte der Sonderpädagoge Lelgemann. Kleine Klassen, speziell ausgebildetes Personal und mit den Eltern kooperieren: so gelinge das schulische Miteinander.

Du bist willkommen: Darauf kommt es in der Praxis an

In Workshops wurde entsprechend der Entwicklungsstufen der Alltag überprüft. „Du bist willkommen“ ist die entscheidende Botschaft im Bereich der Pränataldiagnostik. Dazu kommt die Kooperation der Ärzte, Schwangerenberatung und Frühförderung. Nicht nur in den Kindertagesstätten braucht es ausreichend Personal, damit behinderte und nichtbehinderte Kinder miteinander aufwachsen können. Das zieht sich fort in die Schullandschaft. Es geht um sonderpädagogische Kenntnisse und mehr Zeit, um auf die Bedürfnisse der jungen Leute einzugehen. Sie beständig individuell zu begleiten, ist genauso nötig, wenn es um Arbeit geht. Im freien Arbeitsmarkt ist hohes Bewusstsein der Kollegen gefragt.

Umgekehrt können Werkstätten für behinderte Menschen etwa mit Außenarbeitsplätzen gesellschaftlich neue Räume erschließen. Zudem bringt gemeinsame gestaltete Freizeit die manchmal getrennten Lebenswelten unkompliziert zusammen. Dafür braucht es natürlich passende Angebote und ein Netzwerk. Ein Thema, das in Passau mit den Flüchtlingsströmen virulent wurde: der Umgang mit gehandicapten Kindern von Asylbewerbern oder unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge. Sie müssen medizinisch versorgt, aber auch angesichts ihrer seelischen Verwundungen begleitet werden.

Beim Wort genommen: Blitzlichter vom Podium

Aus den Workshops ergaben sich viele Themen für die elf Podiumsgäste. Hier alphabetisch die zentralen Botschaften:

: Wir versuchen bei medizinischen Hilfen immer den Einzelfall zu berücksichtigen und vernetzen uns dabei mit der Kinderklinik und dem Sozialpädiatrischen Zentrum.Reinhold Dirndorfer (AOK Passau)

: Für unseren mehrfachbehinderten Sohn ist das Caritas-Förderzentrum ein Segen. Eine Regelschule wäre absolut schwierig. Barrieren abbauen, beginnt mit der selbstverständlichen offenen Begegnung.Silke Drexler (Elternbeiratsvorsitzende Don-Bosco-Schule)

: Seit Jahrzehnten setzen wir auf das Miteinander von behinderten und nichtbehinderten Menschen und signalisieren, dass alle willkommen sind. Dazu arbeiten wir aktuell an einem digitalen Führer „Passau barrierefrei“.Jürgen Dupper (Oberbürgermeister Stadt Passau)

: Mit den Profil-Schulen Inklusion und Fortbildungen für Lehrer sind wir gut auf dem Weg. Dringend brauchen wir das Know-How der Caritas-Förderzentren.Werner Grabl (Leiter Schulämter Stadt und Landkreis Passau)

: Die Vision, dass Regelschul-Lehrkräfte und Sonderpädagogen gemeinsam eine Klasse unterrichten, ist erreichbar. Die Lehrkräfte müssen Berührungsängste abbauen.Prof. Dr. Christina Hansen (Universität Passau)

: Auf Knopfdruck lässt sich die Gesellschaft nicht verändern. Als Bürgermeister in Freyung mit der großen Caritas-Werkstätte weiß ich, dass das Miteinander völlig normaler Alltag ist. Wir sollten einmal überprüfen, welche langfristigen Erfolge wir mit Förderungen im Bereich Inklusion erzielen.Dr. Olaf Heinrich (Bezirkstagspräsident Niederbayern)

: Barrierefreiheit bauen wir gedanklich nur Schritt für Schritt ab und baulich können wir das auch nur Zug um Zug umsetzen. Deshalb sind Anstöße der Caritas wie diese Tagung so wichtig.Raimund Kneidinger (stellv. Landrat Landkreis Passau)

: Mit meiner Behinderung stoße ich beruflich einfach an Grenzen. Beschränkte Fördermaßnahmen, Barrierefreiheit konkret und in den Köpfen, machen es nicht immer leicht. Aber ich habe auch als selbständige Unternehmerin die Erfahrung gemacht, dass es klappt, wenn die Leute miteinander reden.Anna Radtke (Unternehmerin)

: Wenn Flüchtlingskinder aus dem Splitterbombenhagel Aleppos mit Verletzungen und Traumata zu uns kommen, stehen wir vor völlig neuen Herausforderungen, medizinisch und heilpädagogisch. Dazu sind Förderzentren nötig. Wir müssen auch den Kulturkreis der Eltern erst verstehen lernen.Dr. Christian Schropp (Sozialpädiatrisches Zentrum Passau)

: Wir starten in Bayern am Mittwoch ein Bildungspaket. Das soll im Bereich der Aus- und Fortbildung auch das Miteinander von Regelschule und Förderzentren sowie den vorschulischen Bereich stärken. Die 120.000 Lehrkräfte in Bayern können viel dazu beitragen, dass sich gesellschaftlich etwas ändert.Prof. Dr. Gerhard Waschler (MdL)

: Ob konkrete Hilfsmittel oder große Einrichtung: Leitlinie muss sein, was für den behinderten Menschen richtig ist. Selbstbestimmt leben, ist entscheidend, auch in der ganz normalen Freizeitgestaltung.Alban Westenberger (Aufsichtsrat im Diözesan-Caritasverband und Sozialrechts-Experte)

Der Bogen vom Auftakt zum Fazit:

Die Unterschiede behinderten und nicht behinderter Menschen ohne Etikettierungen benennen und wegweisende Angebote schaffen. Das hatte Brigitte Lengdobler, Leiterin der Abteilung Behindertenhilfe/Psychiatrie, am Beginn der Tagung, gefordert. Gerhard Krinninger, Leiter des Caritas-Frühförderungsdienstes Passau und Fachbereichsleiter Frühförderung konnte am Ende das Fazit ziehen: Die Fachtagung war ein wegweisender Schritt. Dass Menschen mit Behinderung gleichberechtigt alle Rechte und Grundfreiheiten beanspruchen können, sei stetige Aufgabe. Eine Illusion dürfe es aber nicht bleiben. Die beiden waren mit Karl Bischof, dem Leiter der Caritas-Don-Bosco-Schule, die fachlichen Motoren der Tagung.

Passau