Oberstarzt a.D. Dr. Reinhard Erös:
„Afghanistan wird uns noch Jahrzehnte beschäftigen!“

18.06.2018 | Stand 04.08.2023, 5:43 Uhr
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Im Rahmen des Schießwettbewerbes um den Internationalen Jäger-Gold-Pokal (wir berichteten) hielt Oberstarzt außer Dienst (a. D.) Dr. med. Reinhard Erös einen äußerst engagierten und vielbeachteten Vortrag über die Entwicklung und die aktuelle Situation in Afghanistan. Seit Jahrzehnten engagiert sich Dr. Erös in außergewöhnlichem Maße in und für die von langen Kriegen geschundene Bevölkerung. Er gilt zweifellos als einer der profundesten Kenner Afghanistans. Sein Power-Point gestützter Vortrag war streckenweise sehr ernüchternd, führte bei seinen Zuhörern immer wieder zu Kopfschütteln, gab aber durchaus auch Hoffnung für die Zukunft.

REGEN/HINDUKUSCH Sein Vortrag stand unter der Überschrift: „16 Jahre Bundeswehr am Hindukusch – warum kommt das Land nicht zur Ruhe?“ Bereits 1978 habe er einen Vortrag unter dem Titel: „Der vergessene Krieg in Afghanistan“ gehalten und damals wie heute müsse er feststellen, dass: „…der Westen damals wie heute nichts dazu gelernt hat!“ So ließ sich Afghanistan in seiner mehr als 3000 Jahre alten Geschichte noch nie erobern. Das stolze Afghanische Volk lasse sich nicht von fremden Mächten regieren, eher seien sie bereit zu sterben. Sie wollen vielmehr ihre eigene Regierung und nach ihren eigenen Regeln leben. Dies hätten nach den Briten auch die damals hochmodernen und weit überlegenen Sowjetischen Streitkräfte unter enormen Verlusten erkennen und schließlich akzeptieren müssen. Zunächst habe der Westen die Afghanischen Mudschahedin-Kämpfer jahrelang in ihrem Kampf gegen die Sowjetischen Soldaten unterstützt, nachdem sich jedoch die Sowjetischen Streitkräfte nach einem 10 Jahre dauernden Krieg (1979 – 1989) aus Afghanistan zurückgezogen haben, habe auch der Westen sein Interesse an Afghanistan verloren. Dr. Erös selbst hatte sich von 1986 – 1990 ohne Geld- und Sachbezüge beurlauben lassen und unmittelbar vor Ort die Grausamkeiten dieses Krieges und den ungebrochenen Widerstandswillen der Afghanen hautnah erlebt. Seit 1300 Jahren sei der Islam die bestimmende Religion in Afghanistan.

Diese Form des Islamismus sei jedoch das genaue Gegenteil des Saudi-Arabischen Wahabismus wie ihn z.B. die Salafisten, Al Qaida oder der IS ausüben. Der Islam in Afghanistan sei nie expansiv, nie missionarisch gewesen, betonte Dr. Erös. So sei auch beim Anschlag am 11. September 2001 in den USA kein Afghane beteiligt gewesen. Nachdem die Amerikaner zum „Krieg gegen den Terror“ aufriefen und den Artikel 5 des NATO-Vertrages in Kraft setzten, erklärte die Bundesrepublik Deutschland ihre „uneingeschränkte Solidarität“ mit den USA. Die Aussage des damaligen Deutschen Verteidigungsministers Peter Struck: „Die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindukusch verteidigt:“ bezeichnete Dr. Erös als: „…im keinen Fall zielführend!“ Viele westliche Politiker glaubten dabei an einen kurzzeitigen Einsatz. Heute, nach 16 Jahren Krieg in Afghanistan habe man endlich erkannt, dass: „Uns Afghanistan noch Jahrzehnte beschäftigen wird!“

Glaubte der Westen zunächst sich aus Afghanistan zurückziehen zu können und die Sicherheit und Stabilität den Afghanen selbst überlassen zu können, musste die Deutsche Verteidigungsministerin, Dr. Ursula von der Leyen feststellen : „Wir werden noch sehr lange bleiben müssen!“ Dr. Erös ernüchternd: „Afghanistan ist noch nie so schlecht dagestanden wie jetzt.“ 16 Jahre Krieg in Afghanistan – dies sei der längste und teuerste Krieg in der Geschichte der Menschheit, so Dr. Erös. Rund 1.200 Mrd. US Dollar kostete er bislang. Nur 100 Mrd (rund 9 %) davon seien der Bevölkerung für den zivilen Aufbau zu Gute gekommen. Allein 2008 habe die Bundesrepublik Deutschland Entwicklungshilfe in Höhe von 80 Mio. Euro an Afghanistan überwiesen. Jedoch seien nur rund 24 Mio. Euro bei Projekten angekommen. Die restlichen 56 Mio. Euro seien von Korruption, von horrenden Gehältern und einer gigantischen Verwaltung verschlungen worden. Afghanistan belege im Bereich der Korruption einen Spitzenplatz in der Welt. Dr. Erös betonte, dass er schon vor vielen Jahren eine „Interkulturelle Kompetenz“ als zwingende Grundlage für einen erfolgreichen Einsatz gefordert habe.

Aus der Geschichte eines Volkes die richtigen Lehren zu ziehen; die Sprache der einheimischen Bevölkerung verstehen und sich nicht nur auf zivile Sprachmittler verlassen; kurz: das Volk verstehen, dies seien unverzichtbare Grundlagen für einen Erfolg. Und gerade dies habe man bis heute noch nicht entsprechend umgesetzt, bedauerte er. Unter der Situation im Land haben besonders die Kinder zu leiden. So liege die Kindersterblichkeitsrate bei 46 %. Ein Arzt komme auf 250.000 Menschen. Nur 45 % der Buben und 35 % der Mädchen besuchten eine Schule. Hier setzt Dr. Erös mit Unterstützung seiner ganzen Familie und mit aller Kraft in der von ihm 1998 gegründeten „Kinderhilfe Afghanistan“ an. So hat er bislang - unter vielen anderen Projekten - 30 Schulen in 6 Provinzen mit ca. 60.000 Schülerinnen und ca. 1.400 Lehrerinnen; 14 Computer-Ausbildungszentren mit ca. 1.400 Schüler im Jahr; 1 Waisenhaus mit ca. 600 Waisenkindern; 1 Ausbildungswerkstatt für 30 junge Männer zu Solar/Photovoltaik-Technikern und 3 Ausbildungswerkstätten für 200 Mädchen zu Schneiderinnen gebaut und bis heute erfolgreich betrieben. Alle aktuellen Projekte hier aufzuzählen würden den Rahmen sprengen. Ausführliche Informationen bekommen sie unter: www.kinderhilfe-afghanistan.de. Mehrmals im Jahr befindet sich Dr. Erös für mehrere Wochen in Afghanistan um vor Ort die Entwicklungen zu beobachten und zu forcieren. Alle Projekte werden ausschließlich von privaten Spenden und durch Buchhonorare unter dem Verzicht auf öffentliche Gelder finanziert. In rund 3.000 Vorträgen in 9 Ländern vor ca. 400.000 Zuhörern und 700 Vorträgen an Schulen und Universitäten vor ca. 120.000 Schüler und Studenten warb Dr. Erös bereits für Unterstützung. Für sein Engagement erhielt er mehrere Auszeichnungen, so unter anderem: Das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse, den Bayerischen Verdienstorden und die Bayerische Verfassungsmedaille.

Fluchtursachen ließen sich am besten dadurch bekämpfen, dass man Bleibeperspektiven schafft! betont Dr. Erös. Schulen und Bildungseinrichtungen seien das effizienteste und effektivste Mittel um dies zu erreichen und ein Land voranzubringen!

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