Verteilungsbericht 2022
Die Armut hat in Deutschland deutlich zugenommen

08.12.2022 | Stand 08.12.2022, 11:05 Uhr

Mainzer Tafel - Über zwei Millionen Menschen suchen regelmäßig Unterstützung und eine kostenlose Mahlzeit bei den Tafeln - so viele nie zuvor. - Foto: Sebastian Gollnow/dpa/Archiv

Im vergangenen Jahrzehnt profitierte Deutschland von einer guten Konjunktur. Doch ausgerechnet armen Haushalten half das nach einer aktuellen Studie nicht. Und vieles spricht dafür, dass Corona und die hohe Inflation ihre Situation noch weiter verschärft haben.

Armut hat in Deutschland mittlerweile viele Gesichter. Über zwei Millionen Menschen suchen regelmäßig Unterstützung und eine kostenlose Mahlzeit bei den Tafeln - so viele nie zuvor.

Millionen Menschen können ihre Wohnung nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes nicht angemessen heizen. Und fast jeder zweite Konsument gab kürzlich bei einer Umfrage der Unternehmensberatung EY an, wegen der der explodierenden Lebenshaltungskosten nur noch das Nötigste einzukaufen.

Doch ist der Anstieg der Armut keine plötzliche Entwicklung, die nur auf die Corona-Pandemie, den Ukrainekrieg und die dadurch verursachte Explosion der Energie- und Lebensmittelpreise zurückzuführen ist. Nach dem am Donnerstag vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaflichten Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung veröffentlichten Verteilungsbericht 2022 hat die Armut in Deutschland schon im vergangenen Jahrzehnt deutlich zugenommen.

Die Quote der sehr armen Menschen, die weniger als 50 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben, sei zwischen 2010 und 2019 um gut 40 Prozent auf 11,1 Prozent der Bevölkerung gestiegen, berichtete das WSI darin. Zur Einordnung: 2010 lag das gewichtete Haushaltseinkommen pro Kopf im Mittel demnach bei 21.219 Euro, 2019 bei 24.037 Euro.

Noch nie so viele Menschen in Armut

«Im Jahr 2019 waren so viele Menschen in Deutschland von Armut betroffen wie nie zuvor», fassten die Autorinnen des Verteilungsberichts, Dorothee Spannagel und Aline Zuco, das Ergebnis der Studie zusammen. Obwohl die Jahre zwischen 2010 und 2019 von einer guten Wirtschaftsentwicklung und sinkender Arbeitslosigkeit geprägt gewesen sei, hätten die armen Haushalte davon nicht profitiert.

Sie seien sogar noch weiter zurückgefallen. Die Armutslücke - also der Betrag der einem durchschnittlichen armen Haushalt fehlt, um rechnerisch die Armutsgrenze hinter sich zu lassen - sei für einen Einpersonenhaushalt von 2968 Euro im Jahr 2010 auf 3912 Euro im Jahr 2019 angewachsen.

Mit seiner Einschätzung steht das WSI nicht allein. Der Sozialverband Deutschland sprach von besorgniserregenden Zahlen. Auch der Paritätische Gesamtverband warnte bereits, dass die Armut in Deutschland 2021 «einen traurigen neuen Höchststand» erreicht habe. Nach den Zahlen des Statistischen Bundesamtes waren 2021 rund 13 Millionen Menschen in Deutschland armutsgefährdet. Das entsprach 15,8 Prozent der Bevölkerung. Eine Person gilt nach der EU-Definition als armutsgefährdet, wenn sie über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung verfügt

Armut birgt auch Risiken für Demokratie

Doch nicht nur, was das Geld angeht, sind die armen Haushalte der WSI-Studie zufolge benachteiligt. Auch Lebenszufriedenheit, Gesundheit und Bildung seien bei den Armen messbar niedriger als im Bevölkerungsdurchschnitt, ebenso das Vertrauen in staatliche Institutionen. Das sei nicht nur ein Problem der Armen, sondern eines der ganzen Gesellschaft. «Armut und soziale Polarisierung können die Grundfesten unseres demokratischen Miteinanders ins Wanken bringen, vor allem wenn sie sich verfestigen», warnte die wissenschaftliche Direktorin des WSI, Bettina Kohlrausch.

Tatsächlich stimmten in einer Umfrage der Böckler-Stiftung lediglich 59 Prozent der Armen der Einschätzung zu, dass die Demokratie in Deutschland im Großen und Ganzen gut funktioniere, lediglich 68 Prozent hielten sie für die beste Staatsform. Mehr Engagement gegen Armut sei deshalb nicht nur notwendig, um den direkt Betroffenen zu helfen, sondern auch um die Gesellschaft zusammenzuhalten, sagte Kohlrausch. Das gelte umso mehr in Zeiten hoher Inflation, in denen immer mehr Menschen die Angst vor dem sozialen Abstieg umtreibe.

Neue Überschuldungswelle erwartet

Vieles spricht nach Einschätzung der WSI-Experten dafür, dass die Corona-Pandemie und hohe Inflation die Probleme der Armen in den vergangenen Jahren weiter verschärft haben. Nur ein Beispiel: Nach einer aktuellen Studie des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) trifft die hohe Inflation aktuell besonders Familien mit niedrigem Einkommen. Denn die größten Preistreiber - Haushaltsenergie und Lebensmittel - haben bei ihnen einen deutlich größeren Anteil am gesamten Warenkorb als bei Wohlhabenden.

Die Wirtschaftsauskunftei Creditreform rechnet bereits im kommenden Jahr mit einer neuen Überschuldungswelle in Deutschland. Zählten die Experten aus Neuss in ihrem kürzlich veröffentlichten Schuldneratlas für 2022 noch knapp 5,9 Millionen überschuldete Haushalte, so rechnen sie im nächsten Jahr mit einer deutlichen Verschlechterung der Situation.

«Ein Anstieg der Überschuldungszahlen um rund 600.000 Fälle ist nicht unrealistisch», heißt es im Schuldneratlas. Und es sei nicht auszuschließen, dass die Wucht des Nachzahlungsschocks bei Haushaltsenergie und die schwer kalkulierbare Dauer der inflationären Tendenzen noch mehr Haushalte in die Überschuldung treiben.

Die aktuellen Entlastungspakete der Bundesregierung helfen nach Einschätzung der WSI-Experten im Kampf gegen die Armut zwar. «Da kommt tatsächlich etwas an», lobte Spannagel. Doch gemessen an den grundsätzlichen Problemen in diesem Bereich sei das nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

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