Hancock-Affäre

Premier Johnson trotz Minister-Rücktritt unter Druck

27.06.2021 | Stand 28.06.2021, 6:55 Uhr

Matt Dunham/AP Pool/dpa

In der Affäre Hancock gibt es noch zahlreiche Fragezeichen. Auch von Premier Johnson werden Antworten erwartet. Hielt der Regierungschef zu lange an seinem Gesundheitsminister fest?

Skandal-Minister Matt Hancock ist weg, doch der Druck auf den britischen Premierminister Boris Johnson bleibt groß. Empört kritisierte die Opposition, dass der Regierungschef Hancock nicht gefeuert hat - sondern ihm zunächst sogar den Rücken stärkte.

Von «massivem Führungsversagen» sprach der Fraktionschef der schottischen Partei SNP, Ian Blackford. «Der Fisch stinkt vom Kopf.» Lucy Powell von der Labour-Partei sagte dem Sender Sky News, Johnson habe «einen sehr gefährlichen blinden Fleck» bei Fragen der Integrität und des Verhaltens im öffentlichen Leben.

Tatsächlich hatte Johnson die Affäre um den fremd knutschenden Gesundheitsminister schnell ad acta gelegt. Der Fall sei erledigt, ließ der Premier nach der ersten Entschuldigung seines Vertrauten mitteilen. Als der Rücktritt nicht mehr abzuwenden war, weil auch immer mehr Abgeordnete von Johnsons Konservativer Partei Hancocks Ende forderten, lobte der Premier seinen Kompagnon ausdrücklich: «Du kannst das Amt mit Stolz auf das Erreichte verlassen», gab er dem 42-Jährigen auf den Weg.

Sex, Lügen und Video: Die Affäre des verheirateten Ministers mit einer engen Mitarbeiterin, die am Freitag von der «Sun» öffentlich gemacht wurde und in der Aufmachung an eine Geheimdienstoperation erinnert, war der Tiefpunkt in Hancocks knapp dreijähriger Zeit im Amt. Seit Monaten musste er sich immer neuer Vorwürfe erwehren. Mal erhielt ein Bekannter - Besitzer seines örtlichen Pubs - einen Millionenauftrag zur Lieferung von Corona-Schutzausrüstung, obwohl er keine Erfahrung damit hat. Dann wieder versenkte er Milliarden Pfund in ein untaugliches Corona-Testprogramm.

Johnsons Ex-Berater Dominic Cummings behauptete, Hancock habe während der Pandemie etliche Male gelogen, der Premier habe ihn in einer Kurznachricht als «völlig hoffnungslos» (Original: fucking hopeless) kritisiert. «Das Vermächtnis von Matt Hancock als Gesundheitsminister ist eines von Vetternwirtschaft und Versagen», twitterte der Chef der Liberaldemokraten, Edward Davey.

Doch das alles überstand Hancock, teils mit Glück - bis jetzt. Ohne den Erfolg des Impfprogramms wäre er längst abgesägt worden, kommentierte der «Sunday Telegraph». Dass er strenge Corona-Regeln predigte und betonte, er werde nicht einmal seine Eltern umarmen, aber nun beim innigen Kuss mit seiner Mitarbeiterin erwischt wurde - das war aber letztlich auch seiner Konservativen Partei zu viel.

Er habe die Corona-Abstandsregeln gebrochen - und wer die Vorschriften aufstelle, müsse sich erst recht daran halten, sagte der Vater dreier Kinder in einer Videobotschaft vom Samstagabend. Zum Nachfolger ernannte Johnson Allzweckwaffe Sajid Javid, der schon mehrere Kabinettsposten inne hatte - und im Februar 2020 im Streit mit dem Premier als Finanzminister zurückgetreten war. Auch Hancocks Geliebte, die ebenfalls drei Kinder hat, räumte ihren Posten.

«Das letzte, das ich will, ist, dass mein Privatleben die Aufmerksamkeit von der zielstrebigen Konzentration ablenkt, die uns aus dieser Krise herausführt», betonte Hancock. Doch so einfach will ihn die Opposition nicht entkommen lassen, sie fordert mit Nachdruck eine Untersuchung. So müsse geklärt werden, ob Hancock mit der Einstellung der 43-Jährigen die Vorschriften verletzt habe - waren die beiden schon ein Paar, als sie den mit 15 000 Pfund (rund 17 500 Pfund) Jahresgehalt aus der Staatskasse dotierten Beratervertrag unterschrieb, oder kamen sie sich erst danach näher?

Doch auch der Druck auf Johnson wird nicht so schell abnehmen. Mit Hancock habe der Premier seinen Sündenbock verloren, kommentierte Sky News. Der 42-Jährige war das Gesicht der Pandemie-Bekämpfung und diente öfters als Blitzableiter. Immer wieder stellte er sich der Presse, wimmelte kritische Themen ab und richtete demonstrativ den Blick nach vorne, lobte den Erfolg der Impfkampagne und den Einsatz des Pflegepersonals - auch in seinem Rücktrittsschreiben.

Den Eindruck der Vetternwirtschaft wird Johnsons Regierung aber vermutlich so schnell nicht abschütteln. «Dies ist eine Regierung von Leuten, die Politik weniger als Chance sehen, ihrem Land zu dienen, sondern mehr als ein Spiel, bei dem sie ohne Rücksicht auf die Folgen mitspielen dürfen», kommentierte die Sonntagszeitung «The Observer». «Hancocks Position war unhaltbar. Aber sein Rücktritt wird nichts am grundlegenden Charakter unserer Regierung ändern, solange Boris Johnson Premierminister bleibt.»

Hinzu kommt: Wie gelangten die Aufnahmen des sich küssenden Paares, die offensichtlich von einer Überwachungskamera im Ministerbüro gemacht wurden, an die «Sun»? «Es zeigt, dass irgendwo eine Sicherheitslücke existiert und dass das Ministerium dies untersuchen muss», zitierte die «Sunday Times» eine Quelle in Sicherheitskreisen. Vielleicht seien sogar Regierungssitzungen und interne Kommunikation gefährdet. Das Gesundheitsministerium leitete eine interne Untersuchung ein.

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