Fängt früh an

Wie Mädchen und Jungs in die Klischee-Falle tappen

01.08.2022 | Stand 01.09.2022, 11:50 Uhr

Fängt früh an - Alarm im Kinderzimmer: Jungen sind oft die impulsiveren Kinder. Aber auch Mädchen können sich kämpferisch zeigen, wenn sie gleichgeschlechtliche Vorbilder haben. - Foto: Rainer Holz/Westend61/dpa-tmn

Typisch Junge! Typisch Mädchen! Wirklich? Es gibt natürlich genetische und angeborene Unterschiede. Doch Eltern erziehen oft nach Geschlecht und bestärken so die Rollenklischees - oft unbewusst.

Leise und friedlich oder laut und aufgedreht: Mädchen und Jungs machen sich schon als Säugling anders bemerkbar. Schuld seien die Hormone, so Verhaltensforscher. Aber auch die Erziehung bzw. die Erwartungshaltung, die man an das jeweilige Geschlecht hat, beeinflussen Kinder - und das schon sehr früh.

Fakt ist: Genetik und Verhalten lassen sich nicht trennen. «Von Natur aus» verhält sich kein Mädchen und kein Junge. Denn vieles, was Frauen und Männer unterscheidet, lässt sich auf die ersten Lebensjahre zurückführen. Sie prägen, wie Kinder sich mit ihrem Geschlecht identifizieren und welche Rollenklischees sie annehmen.

Ein Versuch, sieben typische Verhaltensmuster zu entschlüsseln:

Wilde Jungs, brave Mädchen

Schon als Baby verhalten sich viele Jungs lauter und fordernder als Mädchen. Den Grund liefert das Sexualhormon Testosteron. «Die Menge ist nach der Geburt noch deutlich höher als bei Mädchen», sagt Reinhard Winter, Geschlechterforscher am Sozialwissenschaftlichen Institut Tübingen. So wird dafür gesorgt, dass sich die Genitalien nach biologischem Geschlecht entwickeln. Im Laufe des ersten Lebensjahrs sinkt der Testosteron-Spiegel wieder ab. Dennoch bleiben Jungs oft die impulsiveren, aktiveren Kinder.

Zu den angeborenen Unterschieden kommt ab Geburt die Erziehung. «Viele Eltern erziehen ihre Kinder nach Geschlecht, so, wie sie es erwarten», erzählt Winter. Zeigt sich ein Junge kraftvoll und wird dafür positiv bestätigt, will er von dieser Erfahrung mehr. Das funktioniert auch bei Mädchen. Nur: «Mädchen können die Impulssteuerung schneller regulieren. Sie sind dann automatisch die vernünftigeren.»

Puppen-Mama und Baggerfahrer

Ab dem ersten Geburtstag greifen Mädchen zu Puppen, Jungen zu Fahrzeugen. «Mit Puppe und Kleiderkoffer lässt sich viel differenzierter spielen», sagt Gabriele Haug-Schnabel, die das Institut «Forschungsgruppe Verhaltensbiologie des Menschen» betreibt.

Bei Jungen, die mit Autos hin- und herfahren, sei das Spiel oft begrenzt. Jungenexperte Winter empfiehlt, das Spiel zu erweitern: «Dann sind da nicht nur Autos, die aufeinanderprallen, sondern auch ein Krankenhaus, wo die verletzten Autofahrer geheilt werden, bis sie dann wieder nach Hause kommen und gemeinsam kochen», sagt er.

Mädchen basteln, Jungs schießen Bälle

Auch bei sportlichen und gestalterischen Übungen gibt es Unterschiede: Jungen interessieren sich mehr für Klettern, Fußball und körperorientierte Spiele. Mädchen lieben es, mit der Bastelschere kreative Dinge zu entwerfen. «Das verstärkt sich bis ins Schulalter, wenn Geschlechter stereotyp gefördert werden», sagt die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Inés Brock aus Halle (Saale).

Im Kindergarten, wenn die Kleinen ihre ersten Gruppenerfahrungen machen, seien alternative Angebote wichtig. So trainieren beide ihre Schwachstellen. Damit Spielbereiche für beide Geschlechter spannend sind, empfiehlt die Verhaltensbiologin Haug-Schnabel, sie zu ergänzen. «Zum Beispiel das Holzarbeiten mit Verzieren, Buchstaben und Zahlen kombinieren», sagt sie.

Wie der Vater, so der Sohn

Ob man ein Mädchen oder Junge ist, lernen Kinder erst mit der Zeit. «Zwischen zwei und drei Jahren können Kinder die Erwachsenen nach Geschlechtern sortieren, erst danach ordnen sie sich selbst ein», so Winter. Ab drei Jahren wird das Geschlecht relevant für die Identität. «Kinder fahnden nach allen Stereotypen in ihrem Umfeld, die ihnen die Zuordnung einfacher machen», sagt er.

Eine wichtige Rolle haben dabei gleichgeschlechtliche Erwachsene wie Mutter, Vater, Erzieher oder Erzieherin. «Mit dem nachahmenden Verhalten versuchen sie, ihre Identität zu sichern», erklärt Inés Brock. Anstrengender ist es für Jungen. «Durch den großen Überhang an weiblichen Bezugspersonen in Kita und Schule ist es für sie viel schwieriger, sich in ihrer Männlichkeit zuhause zu fühlen», sagt sie. Folglich orientieren sich Jungs stärker an gleichaltrigen Jungs als das Mädchen tun, so Winter.

«Sind männliche Erzieher vorhanden, sollten sie mit den Jungs basteln und nicht explizit Jungszeug spielen», rät die Psychologin. So lernen sie einen anderen Typ Mann kennen. Das gilt auch für Väter: «Die neue Generation hat die Aufgabe, sich in neuen Rollenbildern zuhause zu fühlen.»

Prinzessin oder Feuerwehrmann

Was Kinder mögen, zeigen sie auch mit ihrer Kleidung. Shirts in Rosa oder Blau, verziert mit Einhorn oder Dinosaurier, Regenbogen oder Feuerwehr: Forscher wissen, dass das Kind die gelernte Zuordnung zur Identifikation benutzt. «Wir sollten aber sensibel damit umgehen, sodass ein Junge, der sich als Prinzessin verkleiden will, nicht kritisiert wird, genauso wenig, wie ein Mädchen, das keinen Rock tragen möchte», sagt Inés Brock.

Dass Kleidung schmückt, lernen Mädchen durch Erwachsene. «Wenn man ihnen sagt: "Du bist toll angezogen" prägt das ihre Affinität zum schönen Aussehen», so Gabriele Haug-Schnabel. Jungen lernen, dass Kleidung eine Funktion hat. «Ihnen wird viel häufiger gesagt, dass sie eine echte Handwerkerhose tragen», sagt sie.

Jungen lieben Wettbewerbe, Mädchen scheuen sie

Kleine Mädchen sind oft zurückhaltend, wenn es um eine neue Herausforderung geht. Anders die Jungen. Sie lieben Wettbewerbe und haben Spaß am Gewinnen. «Wodurch die Gruppen der Jungs hierarchisch geprägt werden», sagt Brock.

Die Gründe lassen sich aus der Anthropologie ableiten: «Männer waren aufgrund ihrer körperlichen Statur immer diejenigen, die Familie und Volk geschützt und verteidigt haben - das wirkt bis heute nach», sagt sie. Damit lässt sich auch ihre Lust am Raufen und Rangeln begründen. «Das Bedürfnis kann man aufnehmen, da wo es aber in Richtung Kampf und sozial unverträglichem Macho-Verhalten wird, müssen wir intervenieren», rät Winter.

Mädchen orientieren sich gleichrangiger. Wenn sie sich kämpferisch zeigen, haben sie gleichgeschlechtliche Vorbilder, weiß Gabriele Haug-Schnabel. Das seien vor allem die Großmutter und Mutter, die das Beste für ihre Familie erreichen wollen.

Jungs wollen klare Ansagen, Mädchen sprechen lieber

Mädchen verhalten sich etwas personen- und beziehungsorientierter als Jungen und sprechen mehr. Ein Grund ist die etwas schnellere Reifung im Gehirn, ein anderer das frühe Studium der Menschen. «Mädchen verweilen schon als Baby länger an Gesichtern», sagt Inés Brock. Dadurch nehmen sie Stimmungen und Sprache viel deutlicher wahr.

Um Jungen nicht zu überfordern, helfen klare, kurze Ansagen. «Lange Begründungen oder Beziehungsappelle rauschen an ihnen vorbei, sie können nicht so gut verstehen, was gemeint ist», sagt Winter. Das helfe auch Jungen, die positions- oder statusorientiert sind. «Wenn sich die Mama liebevoll, aber eindeutig als Chefin positioniert, ist die Position klar: Es lohnt sich, ihr zu folgen», sagt er. Lange Ansagen wirken dagegen unsicher, da lohnt sich der Widerstand.

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