Zwei Tote
Kneipen-Schütze will sich an seine Bluttat nicht erinnern können

03.07.2018 | Stand 04.08.2023, 10:08 Uhr
−Foto: n/a

63-Jähriger vor dem Kadi: Zwei Männer (31) starben im September in Lokal „Hexhex“ in Traunreut - Zwei Frauen (50 und 28) überlebten. Nun steht der mutmaßliche Täter vor Gericht - die Beweislage ist erdrückend.

TRAUNSTEIN/TRAUNREUT. Für den Tatzeitraum fehlt einem 63-Jährigen, der in dem Lokal „Hexhex“ in Traunreut zwei 31-jährige Männer erschossen und zwei Frauen schwer verletzt haben soll, angeblich jedwede Erinnerung. Vor dem Schwurgericht Traunstein mit Vorsitzendem Richter Erich Fuchs behauptete der wegen vollendeten und versuchten Morde sowie anderer Delikte angeklagte Deutsche mit kasachischen Wurzeln, er habe in der Gaststätte am Abend des 16. Septembers 2017 eine bittere Flüssigkeit aus einer Flasche getrunken. Ihm sei übel geworden, er sei raus. Dann wisse er nichts mehr.

Der mutmaßliche Doppelmörder wirkte blass, bescheiden, unscheinbar. Der 63-Jährige wuchs in Kasachstan auf, arbeitete als Lastwagen-Fahrer, diente in seiner Militärzeit an der Grenze zu China und Japan. Sein Hobby war die Jagd. 1996 kam er als Spätaussiedler nach Traunreut, war bis zu seiner Inhaftierung als Arbeiter bei einer Baufirma tätig. Jagen durfte er in Deutschland nicht mehr. Da verlegte er sich auf’s Angeln. Das Tatgewehr hatte er angeblich „am Waginger See bei Gewitter an einem Fischplatz gefunden“. Er habe es gesäubert und aufbewahrt, sei er doch seit der Kindheit mit Waffen umgegangen, meinte der Angeklagte. Dass er eine große Menge passender Munition in der Wohnung hatte, dazu äußerte er sich nicht.

Der Prozess wird am 10., 12., 16., 17. und 23. Juli, jeweils um 9 Uhr, fortgesetzt.

Etwa zwei Dutzend Zuschauer verfolgten den Verhandlungsauftakt, zu dem der Angeklagte in Fußfesseln vorgeführt wurde. Ihm stehen die Verteidiger Michael Vogel aus Traunstein und Walter Appel aus Traunreut zur Seite. Michael Fraunhofer aus Trostberg und Jörg Zürner aus Mühldorf vertraten die Eltern der 31-jährigen Todesopfer. Ein Elternpaar war im Gerichtssaal anwesend, als Staatsanwalt Björn Pfeifer die sechsseitige Anklageschrift mit ihren drastischen Details verlas:

Der 63-Jährige unternahm an jenem Samstag vor dem Schlafengehen einen Spaziergang. Gegen 19.45 Uhr tauchte er in der Kneipe auf, trank eine Halbe Bier und ging zurück in seine Wohnung auf der anderen Seite des St. Georgs-Platzes. Mit Brotzeit und Schnaps aus Kroatien kehrte er zurück, konsumierte noch ein Bier und einen Schnaps. In dieser Zeit trafen die beiden 31-jährigen Freunde im „Hexhex“ ein. Etwa um 21.50 Uhr verließ der 63-Jährige das Lokal laut Anklage mit den Worten, jetzt werde „gleich die Polizei kommen“. Gut eine halbe Stunde erschien er wieder – mit einer geladenen Repetierbüchse in den Händen. Der Staatsanwalt geht davon aus, dass der Arbeiter alle Personen im Lokal töten wollte.

„Jetzt wird gleich die Polizei kommen“

Der 63-Jährige soll die Waffe zunächst auf die Wirtin gerichtet und nach einer Fehlzündung nachgeladen haben. Das Geschoss traf die Frau in die Schulter und trat an der Körperrückseite wieder aus. Die 50-Jährige wurde schwer verletzt zu Boden geschleudert. Nächste Opfer wurden die beiden 31-Jährigen aus Palling und Altenmarkt. Einer erlitt zwei Thorax-Durchschüsse und verstarb aufgrund einer Herzbeutel-Verletzung. Der zweite Mann verlor sein Leben durch Verbluten nach innen und außen – nach einem Durchschuss des Oberkörpers mit Wirbelfrakturen. Beiden Männern hatte der Täter auch jeweils einen Schlag mit dem Gewehrkolben gegen den Schädel versetzt.

Nach den Schüssen ging der Täter mit dem leeren Gewehr schlagend auf Personen los

Nachdem keine weitere Munition mehr in der Waffe war, ging der Angreifer laut Anklage auf die 28-jährige Freundin der Wirtin los. Möglicherweise lag die junge Frau bereits am Boden, als der Täter mindestens vier Mal wuchtig mit dem Gewehr auf ihren Kopf und einmal gegen die Schulter eindrosch. Die 28-Jährige blieb bewusstlos liegen.

Bei der Polizeieinsatzzentrale Rosenheim ging um 22.24 Uhr ein Notruf ein. Eine Zeugin meldete Schüsse. Mehrere Streifen rückten an, wie der 45-jährige Sachbearbeiter der Kripo Traunstein im Zeugenstand berichtete. Aufgrund von Zeugenangaben strahlte die Einsatzzentrale eine Täterbeschreibung aus. Plötzlich sprach ein Mann im Bereich der Kneipe einen Einsatzbeamten an, erzählte von seiner Militärzeit in Kasachstan und bedauerte, wie schwer es sei, in Deutschland Waffen zu besorgen. Der Polizist wurde hellhörig. Für den 63-Jährigen klickten die Handschellen. Er war seither in einem Bezirksklinikum vorläufig untergebracht.

Der Kriposachbearbeiter umriss die vielen Zeugenaussagen, erläuterte die zahlreich sicher gestellten Spuren und präsentierte die Tatwaffe. Unter anderem informierte er, die überlebenden Frauen hätten den 63-Jährigen als Täter eindeutig identifiziert. Mithilfe modernster Technik konnten die Prozessbeteiligten einen virtuellen Rundgang durch das Lokal und die Wohnung des 63-Jährigen unternehmen.

Der Angeklagte behauptet, K.O.-Tropfen bekommen zu haben

Der Angeklagte machte Erinnerungslücken aufgrund des „bitteren Biers“ geltend und vermutete darin „K.O.-Tabletten“. Auf Frage des Vorsitzenden Richters konnte er keinen Grund nennen, warum ihm jemand ein K.O.-Medikament verpassen sollte. Erich Fuchs dazu: „Es ist lächerlich, was Sie uns da erzählen wollen.“ Der 63-Jährige behauptete, seine Erinnerung setze wieder ein mit der Heimkehr in seine Wohnung auf der der Kneipe gegenüber liegenden Seite des St. Georgs-Platzes. Er habe im Schlafzimmer seine Jacke ausgezogen. Dabei habe er vom Fenster aus Blaulichter vor dem „Hexhex“ gesehen. Daraufhin sei er wieder zu der Kneipe zurück.

„Was haben Sie mit der Tat zu tun? Sitzen Sie unschuldig auf der Anklagebank?“ Auf diese Frage von Fuchs erwiderte der Arbeiter: „Ich weiß es nicht.“ Der Vorsitzende Richter hielt vor, bei ihm seien Kleidungsstücke, daran Blut der Opfer und Schmauchspuren von dem Gewehr, gefunden worden. Die in der Wohnung entdeckte Repetierbüchse sei die Tatwaffe. Die Beweismittel seien „erdrückend“. Gemäß einem Sachverständigen seien keine Erinnerungslücken anzunehmen: „Überlegen Sie, ob Sie uns nicht doch mit der Wahrheit bedienen.“ Verteidiger Michael Vogel gab nach einer Beratungspause mit seinem Mandanten bekannt: „Der Angeklagte hat alles gesagt, was er berichten kann. Er wird keine weiteren Fragen beantworten.“

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