„Schonungslose Beschäftigung“
Continental stellt sich seiner NS-Vergangenheit

27.08.2020 | Stand 21.07.2023, 1:18 Uhr
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Continental nimmt mit einer am Donnerstag, 27. August, vorgelegten unabhängigen wissenschaftlichen Studie eine umfassende Aufarbeitung der Verstrickung des Unternehmens in das nationalsozialistische Regime vor.

Regensburg. Die Studie zeichnet detailliert nach, wie Continental zu einem Stützpfeiler der nationalsozialistischen Rüstungs- und Kriegswirtschaft wurde und gleichzeitig von der Mobilisierungs- und Aufrüstungspolitik des Regimes wirtschaftlich profitierte. Die breit angelegte Untersuchung mit dem Titel „Zulieferer für Hitlers Krieg. Der Continental-Konzern in der NS-Zeit“ wurde von dem Historiker Prof. Dr. Paul Erker (LMU München) erstellt, der ein ausgewiesener Experte für Unternehmensgeschichte in der NS-Zeit ist. Die Studie verfolgt den konzeptionell innovativen Ansatz des „virtuellen Konzerns“. So wurden mit Teves, VDO, Phoenix und Semperit auch diejenigen Unternehmen in der Untersuchung berücksichtigt, die im Betrachtungszeitraum noch nicht Teil der heutigen Continental waren.

„Die Studie zeigt: Continental war ein wichtiger Bestandteil von Hitlers Kriegsmaschinerie“, sagte Dr. Elmar Degenhart, Vorstandsvorsitzender von Continental, und fügte hinzu: „Wir haben die Studie in Auftrag gegeben, um über dieses dunkelste Kapitel unserer Unternehmensgeschichte noch mehr Klarheit zu gewinnen als bisher. Deswegen haben wir darin gezielt diejenigen Unternehmen einbezogen, die damals noch nicht Teil von Continental waren. Die Studie ist eine von uns bewusst gewählte Chance und ein erneuter Anlass dafür, uns unserer Verantwortung zu stellen und auf Basis der einstigen Erfahrungen unsere Identität klarer zu begreifen und eine bessere Zukunft für die Menschen zu gestalten. Das ist eine immer wieder neue Aufgabe für jede Generation. Unter diese Verantwortung ziehen wir heute somit keineswegs einen Schlussstrich.“

Die Untersuchung zeichnet detailliert nach, wie die Continental-Unternehmenskultur schrittweise deformiert wurde und sich das Unternehmen zu einem kriegswichtigen Betrieb entwickelte. Das Verhalten und die Entscheidungsprozesse des damaligen Managements werden in der Studie ebenso sichtbar, wie die Erfahrungen der Mitarbeiter. Continental stellte vor dem Krieg zahlreiche Produkte für die nationalsozialistische Freizeit- und Konsumgesellschaft her, bevor das Produktportfolio mehr und mehr von Rüstungsgütern dominiert wurde. „Die Zuliefererindustrie und mit ihr Continental, VDO, Teves, Phoenix und Semperit waren das eigentliche Rückgrat der nationalsozialistischen Rüstungs- und Kriegswirtschaft“, sagte Erker.

Zunehmende Radikalität im Einsatz von Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen

Dabei setzte Continental im Zweiten Weltkrieg laut Studie insgesamt rund 10.000 Zwangsarbeiter ein. Ihre Anzahl entwickelte sich sehr dynamisch. Ihr Ursprung war vielfältig und reichte von italienischen „Jungfaschisten“ über Leiharbeiter aus dem besetzten Belgien bis hin zu französischen und russischen Kriegsgefangenen. Schrittweise wurde der Charakter ihres Einsatzes immer radikaler. In den letzten Kriegsjahren waren es dann KZ-Häftlinge, die zum Beispiel in der Produktion von Gasmasken und bei der Verlagerung der Produktion unter Tage eingesetzt wurden. Die Arbeits- und Lebensbedingungen dieser Menschen waren menschenunwürdig. Das Continental-Management war in diesen Prozess aktiv involviert und trug die schrittweise Radikalisierung der Arbeitskräftemobilisierung mit. „Bei Continental ergaben sich keine unheilvollen Konstellationen eines systematischen Unterdrückungssystems, aber dennoch kam es zu Eigendynamiken einzelner dieser Funktionsträger“, beschreibt Erker in der Studie das Ausmaß des Zwangsarbeitereinsatzes in dem Unternehmen. Er dokumentiert in diesem Zusammenhang auch die Mitbeteiligung von Continental an Schuhteststrecken, auf denen KZ-Häftlinge bis zur Entkräftung und Tod ausgebeutet und misshandelt wurden.

Unternehmenskultur muss aktiv gepflegt und verteidigt werden

Eine zentrale Erkenntnis aus der Studie ist, wie anfällig die Continental-Unternehmenskultur generell für die NS-Betriebsgemeinschaftsideologie sowie die politisch-ideologischen Ziele des NS-Regimes war. Die Unternehmenskultur wurde im Fall von Continental nicht nur von außen, sondern auch von innen heraus deformiert. „Das zeigt: Unternehmenskulturen können unter dem Druck politischer Regime und gegenläufiger gesellschaftlicher Einflüsse schnell kippen“, erklärte Dr. Ariane Reinhart, Personalvorstand von Continental. „Aus diesem Grunde sind Unternehmenskulturen ständig zu überprüfen, zu stärken und fortwährend weiterzuentwickeln. Dazu gehört eine gesunde Erinnerungskultur, um aus der Vergangenheit die Gewissheit für unsere heutige Identität und die Lehren für die Gegenwart und Zukunft zu ziehen.“

Untersuchung folgt neuem Ansatz

Continental hat ihre Studie als umfassende, wissenschaftlich-neutrale Darstellung des Unternehmensverhaltens in der NS-Zeit auf eigene Initiative vor vier Jahren auf den Weg gebracht. „Mit der genauen Rekonstruktion und Analyse der Geschichte von Continental in der Zeit von 1933 bis 1945 liefert diese Aufarbeitung einen wichtigen Beitrag für die internationale unternehmensgeschichtliche Forschung“, so Erker. „Die Studie ist eine Branchengeschichte von fünf Unternehmen der Zuliefererindustrie, die heute gemeinsam Teil von Continental sind. Dieser Ansatz ermöglicht interessante Vergleiche und zeigt Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten auf.“ So gelang es zum Beispiel dem Unternehmen Teves in vielen Fällen, sich den Vereinnahmungs- und Beeinflussungsversuchen der NS-Behörden zu entziehen, während Continental und VDO wesentlich konfliktfreier mit dem Regime kooperierten.

Die wissenschaftliche Grundlage der vorliegenden Arbeit wurde dadurch gelegt, dass Erker seine Untersuchung unabhängig und frei von jeder Einwirkung und Kontrolle seitens Continentals durchführen konnte. Das Unternehmen hat ihm dazu alle relevanten Unterlagen vollständig und ohne Einschränkung zugänglich gemacht. Ganz wesentlich dabei war die Wiederbelebung des Unternehmensarchivs im Jahr 2016, durch die Erker zu etwa 30 Prozent auf bisher unbekanntes oder nicht ausgewertetes Material zurückgreifen konnte.

Blick in die Zukunft

„Die schonungslose Beschäftigung mit unserer Vergangenheit ist für uns Ausgangspunkt, eine Debatte über gesamtgesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen anzuregen und intern als Teil der Unternehmensstrategie ernsthaft zu berücksichtigen“, ergänzte Degenhart. Als Folge der Studie hat Continental das Programm „Verantwortung und Zukunft“ ins Leben gerufen. Dessen Ziel ist es, das fortwährende Lernen aus der eigenen Vergangenheit zu einem festverankerten Bestandteil der Unternehmenskultur zu machen. Kernelemente sind unter anderem die systematische Integration der Studienergebnisse in die Aus- und Weiterbildung sowie eine Öffnung des Unternehmensarchivs für die Wissenschaft anlässlich des 150-jährigen Unternehmensjubiläums im Herbst 2021.

In diesem Zusammenhang stiftet Continental das neue Siegmund-Seligmann-Stipendium, mit dem sie die wirtschafts- und unternehmensgeschichtliche Forschung zur NS-Zeit und zur Unternehmensgeschichte der Continental fördert. Darüber hinaus wird das Unternehmen die Namen seiner früheren Zwangsarbeiter soweit sie überliefert sind in Form einer Gedenktafel öffentlich präsentieren. Degenhart sagte dazu: „Ohne Kenntnis der Vergangenheit und damit ohne eine vollständige Aufarbeitung der NS-Geschichte ist für uns ein reflektierter und unbefangener Aufbruch in eine erfolgreiche Zukunft und die nächsten 150 Jahre von Continental nicht möglich.“

Continental entwickelt wegweisende Technologien und Dienste für die nachhaltige und vernetzte Mobilität der Menschen und ihrer Güter. Das 1871 gegründete Technologieunternehmen bietet sichere, effiziente, intelligente und erschwingliche Lösungen für Fahrzeuge, Maschinen, Verkehr und Transport. Continental erzielte 2019 einen Umsatz von 44,5 Milliarden Euro und beschäftigt aktuell mehr als 230.000 Mitarbeiter in 59 Ländern und Märkten.

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