Was ist geschehen?
Flüchtlingskind am Brenner, Eltern in Deggendorf

22.12.2017 | Stand 13.09.2023, 0:38 Uhr
Robert Piffer
−Foto: Foto: Hannes Lehner

Kurz vor dem Erfrieren wurde am Brenner ein Flüchtlingskind aus Sierra Leone gefunden. Die Eltern, das stellte sich später heraus, sind in Deggendorf.

DEGGENDORF/BOZEN Es ist ein Flüchtlingsschicksal, das ganz Italien erschüttert hat: Vor fünf Wochen entdeckte ein Polizist am Brenner unter einem Güterwaggon ein bibberndes Kind, mutterseelenallein. Gerade noch rechtzeitig, wie ein Notarzt wenig später attestierte. Der farbige Junge im Kindergartenalter hätte ohne sofortige Hilfe die nächsten 15 Minuten nicht überlebt. Der Bub kam ins Krankenhaus, wurde mühevoll wieder aufgepäppelt. Währenddessen rätselte ganz Italien, um wen es sich bei dem Findelkind handeln könnte. Dass er Anthony heißt und aus Sierra Leone stammt, das fand man heraus. Nicht aber, wie er unter den Güterzug gekommen war.

Weil in Sierra Leone so viele unterschiedliche Dialekte gesprochen werden, dauerte es Tage, bis der richtige Dolmetscher gefunden war.

Währenddessen wurde viel spekuliert:

Der Bub trug eine rotblaue Tasche mit Frauenkleidern mit sich. War er zusammen mit seiner Mutter unter dem Güterzug versteckt? Ist die Frau möglicherweise in der Kälte der italienischen Alpen irgendwo vom Zug gefallen und dabei ums Leben gekommen?

Erst als der richtige Dolmetscher gefunden war, konnte geklärt werden, dass Anthonys gesamte Familie auf der Flucht dabei war. Recherchen der italienischen Behörden ergaben, dass zu dem Zeitpunkt, an dem man den Buben am Brenner gefunden hatte, eine Reihe von Flüchtlingen aus Sierra Leone in Augsburg angekommen waren. Eine Flüchtlingsorganisation stellte den italienischen Behörden Bilder der Ankömmlinge zur Verfügung. Und Anthony erkannte darauf seine Eltern, Vater James, Mutter Isha und seine ein Jahr jüngere Schwester.

Ein Reporter der italienischen Zeitung Corriere della Sera spürte in dieser Woche die Familie des Buben in der Flüchtlingsunterkunft in Deggendorf auf. Dort hatten Bewohner am Mittwoch gegen ihre Unterkunft und die Verpflegung, aber auch gegen die drohende Abschiebung protestiert.

Der italienische Reporter bezeichnete die Unterkunft als schönen Bau nahe dem Bahnhof. Vater James erzählte dem Reporter, dass sie alle zusammen in Verona auf dem Bahnhof gewesen seien. Als er kurz wegging, um etwas zu essen und zu trinken zu holen und dann zum Bahnsteig zurückkam, habe er dort nur noch seine Frau und die Tochter angetroffen. Anthony sei verschwunden gewesen. Seine Frau habe gesagt, der Bub sei mit seinem Onkel weggegangen. Trotzdem habe er bei der Bahnpolizei gefragt, ob sie Anthony gesehen hätten. Die Polizisten hätten aber kein Englisch gesprochen und die Verständigung habe so nicht richtig geklappt. Er sei davon ausgegangen, dass der Bub mit seinem Onkel einen früheren Zug genommen habe.

Aber auch bei der Ankunft in Augsburg blieb Anthony verschwunden. Die Familie soll sich danach nicht weiter um ihn gekümmert haben. Dafür wurden die Staatsanwaltschaften in Bozen und Deggendorf tätig. Die Geschichte mit dem Onkel hält man für wenig glaubwürdig, weil der Bub bei einer Vernehmung in Italien nie etwas von ihm erwähnt hat. Nähere Angaben machen derzeit mit Hinweis auf das laufende Verfahren weder das Jugendgericht noch die Staatsanwaltschaft in Bozen.

Die Deggendorfer Staatsanwaltschaft lässt laut Pressesprecher Rudolf Helmhagen zunächst den italienischen Ermittlern den Vortritt, da sie aufgrund des „Tatortes“ zuständig seien. Sollte in Italien nichts passieren, dürfte in Deggendorf zumindest ein Verfahren wegen des Verdachts der fahrlässigen Körperverletzung gegen Anthonnys Eltern eingeleitet werden. Es gibt aber auch noch einen schlimmeren Verdacht:

Denn die Eltern haben den Fünfjährigen angeblich nicht einmal als vermisst gemeldet.

Deggendorf