Ein Interview
Verschwörungstheorien in Zeiten von Corona

13.05.2020 | Stand 13.09.2023, 0:14 Uhr
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Verschwörungstheorien gab es zu allen Zeiten, aber jetzt, während der Corona-Krise fallen sie besonders auf. Haben sie gerade Hochkonjunktur? Befeuert das Internet? Weshalb sind Verschwörungstheorien so attraktiv?

Das Wochenblatt fragte nach beim Experten. Professor Matthias Hudecek ist Diplom-Psychologe, er lehrt und forscht an der FOM Hochschule München sowie an der Universität Regensburg. Zudem unterstützt und befähigt er als systemischer Berater und Therapeut Menschen, Teams und Organisationen zur besseren Zusammenarbeit und Erreichung ihrer Ziele.

Professor Hudecek, Sie hatten, als wir den Termin vereinbarten, erwähnt, schon während Ihrer Forschung auf das große Interesse an alternativen Corona-Erklärungen gestoßen zu sein?

„Ja, unser Ausgangspunkt, den wir am Lehrstuhl festgestellt hatten, deckt sich mit anderer Forschung zum Bereich Verschwörungstheorien: Es lässt sich eine hohe Breitenwirkung beobachten. Die Zustimmungsquote zu Alternativszenarien – wie etwa Bio-Labor, absichtliche Herstellung – lag bei einer unserer Erhebungen zwischen 15 und 30 Prozent.

Die Menschen sind anfällig dafür, sie sind empfänglich. Verschwörungstheorien, auch gerade eben zu Corona, haben offenbar durchaus eine gewisse Attraktivität.

Jedenfalls ist diese Attraktivität auffällig genug, sie zu untersuchen, sich zu überlegen, was alles dahinterstecken könnte, sie beeinflusst, erhöht oder verringert… Wir haben weitere Studien gemacht, recht breit Daten erhoben und stecken im Moment noch mitten in der Auswertungsphase.“

Wie definieren sich denn eine Verschwörungstheorie eigentlich?

„Wie so oft in der Psychologie haben wir natürlich keine einheitliche Definition.

Grundsätzlich ist das Muster so: Verschwörungstheorien versuchen, Ursachen für bedeutsame gesellschaftliche und politische Ereignisse zu erklären. Dabei werden meist offizielle Erklärungen in Frage gestellt und Zweifel daran gesät. Als Alternative dafür werden eher „naive Erklärungen“ angeboten, oft auch unter der Behauptung von illegitimer Einflussnahme irgendwelcher Gruppen, die im Verborgenen hantieren würden.

Das heißt: Verschwörungstheorien sind häufig spekulativ. Sie sind häufig so konstruiert, dass sie kaum noch zu beweisen oder zu widerlegen sind, was auch daran liegen kann, dass ihre Konstrukteure im Aufbau einer überprüfbaren Theorie nicht unterwiesen sind. Wesentlich für eine Verschwörungstheorie ist weiter, dass der spekulative Charakter und die Nicht-Überprüfbarkeit ein geschlossenes System erzeugen.“

Mal ganz ehrlich gefragt: Die meisten wissenschaftlichen Erklärungen kann ein normaler Verbraucher auch nicht überprüfen? Otto Irgendwer sitzt am Frühstückstisch, liest zwei Berichte, einen von Zeitung A und einen von Zeitung B. Der eine Bericht ist kurz, klingt nett, naiv, den kann er verstehen – und der andere Bericht ist lange, klingt kompliziert, unbefriedigend und vielleicht sogar furchteinflößend… Woher soll Otto wissen, welchen Bericht er glauben kann?

„Ja, das ist vermutlich ein ganz entscheidender Faktor, warum sie so gut funktionieren: Verschwörungstheorien reduzieren Komplexität. Sie bieten einfache Antworten. Da gibt es dann eben eine böse Gruppe oder eine böse Institution und die hat die Macht und die Fäden in der Hand. Schwarz-Weiß Muster: Alles einfach.

Wissenschaft dagegen ist oftmals nicht einfach. Wir haben eben oftmals, auch in der Psychologie, keine einfache Antwort. Etwa, dass wir sagen würden: „Ja, das liegt daran, der da ist diese Kategorie und damit wäre das abgehakt…“

Verschwörungstheorien aber machen das schon. Auch jetzt eben bei sowas unfassbarem wie dieser Corona-Pandemie: Es erzeugt einen gewissen Halt, dass man sagt: „Gut, das kommt aus einem Labor, und das haben die sich ausgedacht“ und plötzlich ist das nicht mehr ganz so… außer Kontrolle. Es verliert das Unbestimmte, die Welt bekommt wieder Struktur, wird in die Fugen gerückt.

Das ist etwas, was sich oft und in ganz vielen Lebensbereichen beobachten lässt, also gar nicht unbedingt bezogen nur auf Verschwörungstheorie: Wir bevorzugen immer einfache Erklärungen gegenüber komplexen und unsicheren Situationen.

Das ist die große Herausforderung von Wissenschaft, dass es oftmals eben nicht einfach ist, sondern es ist komplex und es bleibt komplex. Man muss dann auch eine gewisse Unsicherheitstoleranz haben, dass man sagt: „Ok, ich bin bereit, zu akzeptieren, es könnte so sein, es könnte auch anders sein… Wir haben noch keine feste Erklärung.“

Sie hatten auch noch andere Forschung erwähnt, die die große Attraktivität belegt?

„In Deutschland zum Beispiel gab es letzte Jahr die Mitte-Studie 2018/19 der Friedrich-Ebert-Stiftung. Die hat zum ersten Mal auch gefragt, wie es um Verschwörungstheorien in Deutschland steht. Da ist jeder zweite in Deutschland durchaus in irgendeiner Form von Verschwörungstheorie sehr angetan.

Also: Es ist kein Einzelfall. Man kann demnach auch nicht sagen, jemand, der an eine Verschwörungstheorie glaubt, der sei irgendwie absonderlich. Nein, eben nicht, es ist einfach ein weit verbreitetes Phänomen. Wir sind als Menschen anfällig dafür. Das gehört zu uns dazu.“

Jeder Zweite?

„Knapp jeder zweite, ja. Ich glaube 45,7% haben nach der Studie von 2018/2019 an irgendeine Form von Existenz geheimen Organisationen geglaubt, dass sie Einfluss nehme auf politische Entscheidungen. Auch hat sich ein Drittel fremdenfeindlich geäußert. Ebenso hat ein Drittel der Befragten geglaubt, dass die Politiker alle Marionetten sind und von anderen Mächten gesteuert werden – ohne, dass da angegeben wird, wer das dann wäre. Es bleibt nebulös.

In anderen Ländern verhält es sich ähnlich. In Frankreich spiegeln die Zahlen dasselbe Phänomen. Das ist ein Teil des Mensch-seins, offensichtlich, dass wir ein Bedürfnis haben, anspruchsvolle, komplexe Situationen möglichst einfach zu erklären. Auch immer dann, wenn wir vielleicht überfordert sind, oder wenn es erstmal keine einfache Erklärung gibt und das dann eine gewisse … unangenehme Situation auslöst.

Das Erschreckende von der Studie war eigentlich: Menschen mit extremeren politischen Gedanken sympathisieren noch eher mit Verschwörungstheorien. Das deckt sich auch mit internationalen Studien: Je extremer politische Einstellungen desto anfälliger per se ist eine Person.“

Wie kommt das?

„Von der Erklärung her: Extreme politische Einstellungen haben bereits ein gewisses Misstrauen gegenüber Institutionen, seien das jetzt politische oder gesellschaftliche, wie das Robert-Koch-Institut. Gibt es nun zudem noch eine Verschwörungstheorie, die sagt, die würden sowieso alle unter einer Decke stecken, passt das wohl ganz gut. Dann ist der Schritt natürlich wesentlich näher, weil man sich denkt: Na, hab‘ ich doch immer schon gewusst.

Außerdem gibt es Belege dafür: Wenn ich an eine Verschwörungstheorie glaube, dann steigt auch das Risiko, dass ich an weitere glaube. Nach dem Motto: „Eine Verschwörungstheorie kommt selten allein.“ Das interessante ist: Verschwörungstheorien können sich sogar widersprechen. Das kann ganz abstruse Formen annehmen. Etwa, dass man plötzlich zwei sich widersprechenden Theorien glaubt, dann baut, wie der Kontext gerade erfordert. Das wird dann alles sehr schnell sehr irrational.“

Wieso sind wir – oder knapp 50 Prozent von uns – denn nun eigentlich so anfällig für Verschwörungstheorien? Was sind psychologische Hintergründe?

„Letztlich differenziert man, neben weiteren Risikofaktoren, zwischen vier Erklär-Mechanismen: Persönlichkeit, Einstellung, kognitive Prozesse, Motive und Bedürfnisse.

Beim ersten Mechanismus betrachtet man Zusammenhänge zwischen Glauben an Verschwörungstheorien und Persönlichkeit. Gibt es eine Art Prädisposition? Sind manche Menschen per se anfälliger? Das war der historische Annäherungspunkt der Forschung an Verschwörung, als man noch glaubte, es beträfe nur einige wenige Menschen: ohnehin irgendwie auffällige, vielleicht besonders paranoide. Als man dann bemerkt hat, dass das Phänomen viel zu weit dafür verbreitet ist, kam man vom Ansatz, es mit Absonderlichkeit erklären zu wollen, wieder ab.

Nichts desto trotz gibt es ein paar individuelle Faktoren. Zum einen eine starke Selbstüberschätzung, im Sinne von narzisstischer Persönlichkeit. Das geht häufig mit niedrigem Selbstwert einher. Insofern kann der Glauben an die Verschwörungstheorie genutzt werden, um sich ein bisschen positiver darzustellen.

Man hat auch festgestellt, dass Personen eher anfällig für Verschwörungstheorien sind, wenn sie ohnehin schon zu paranoide Gedanken neigen – das Gefühl, abgehört zu werden, zum Beispiel.

Und dann gibt es noch Anthropomorphismus. Das bezeichnet das Verhalten, dass man Gegenständen menschliche Eigenschaften zuschreibt: „Das macht das Auto jetzt absichtlich, es springt nicht an, um mich zu ärgern.“ Menschen, die diesen Hang haben, nichtlebendigen Dingen Leben einzuhauchen, glauben auch eher an Verschwörungstheorien.

Recht viel mehr von persönlichen Eigenschaften findet man nicht. Es ist eben nicht so, dass man sagen kann, es gäbe diesen einen Typus Mensch, der anfällig ist, sondern es gibt ein paar Eigenschaften, die begünstigen das nochmal. Aber es gibt nicht den einen Typ Mensch – dafür sind knapp 50 Prozent auch ein bisschen zu viel.

Das wäre so der eine Block.“

Und die anderen drei Erklärungen?

„Ein weiterer sind Einstellungen. Das zeichnet die Haltung oder die Meinung von Personen aus. Zum einen politische Einstellungen, von welchen man weiß: je radikaler, desto anfälliger. Und das betrifft wohl stärker Personen vom rechten Spektrum.

Das zweite, das aus Einstellungssicht auch maßgeblich ist, ist, wenn man Antipathie gegen bestimmte Minderheiten oder andersartigen Gruppen hegt: Dann sind die halt auch eher schuldig im Rahmen einer Verschwörungstheorie. Das begünstigt.

Der dritte Block, mit dem man’s ganz gut erklären kann, sind letztlich kognitive Prozesse. Ein schwach ausgeprägtes analytisches Denken macht anfälliger für Verschwörungstheorien – wenig überraschend, berücksichtigt man, dass analytisches Denken notwendig ist, um Informationen aus Geschichten filtern und differenzieren zu können. Man muss an die Stelle kommen, an der man Quellen in Frage stellt und sich noch weitere holt. Es gibt auch ein paar Studien, die zeigen, dass es einen Zusammenhang mit Intelligenz gibt.“

Und der vierte Block, den Sie erwähnten?

„Dass ich durch den Glauben an die Verschwörungstheorie ein bestimmtes Motiv oder Bedürfnis erfüllen kann. Das können Erklärungs- oder Kontrollbedürfnisse, aber auch soziale Bedürfnisse sein.

Die einfachste Antwort, wenn man fragt, warum Verschwörungstheorien so wirksam sind, dann: Sie geben uns ein Gefühl von Kontrolle. Wir können uns damit die Realität für eine sehr schwierige Situation einfach machen und damit auch wieder kontrollierbar. Irgendeine Erklärung kann einfacher zu ertragen sein, als wenn es gar keine gibt. Wir wollen uns irgendeinen Reim auf die Welt machen und da zählt halt auch ein Informationsbedürfnis mit dazu.

Ebenfalls haben wir alle das Bedürfnis, die Umwelt um uns herum zu beeinflussen – wir sind kein Spielball, der einfach durch die Gegend geschubst wird. Gerade jetzt bei komplexen Geschichte wie Corona sind wir natürlich schon alle irgendwie Spielball, da wird über uns hinweg entschieden, zum Beispiel das jetzt mit den Ausgangsbeschränkungen. Das erzeugt natürlich ein gewisses Unwohlsein bei Menschen. Wenn ich jetzt an Verschwörungstheorien glaube, dann hohle ich mir damit eine gewisse Beeinflussbarkeit zurück. Dann kann man sagen, ich durchblicke es halt jetzt besser, das entlastet mich dann. Ich kann’s zwar nicht beeinflussen, aber ich hab wenigstens eine Erklärung.

Es reduziert letztendlich vieles: den Stress und die Unsicherheit und das Gefühl, ich kann mir meine Realität nicht mehr erklären.“

Und wieso soziale Bedürfnisse?

„Jeder Mensch möchte sich als Teil von einer Gruppe fühlen und da auch eine gewisse Anerkennung haben. Durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, bekomme ich eine positive Rückkopplung auf meine Identität. „Soziale Identität“ – so nennen wir das – hat positive Effekte für das eigene Wohlbefinden und den Selbstwert.

Wenn ich mich also ohnehin schon ausgegrenzt fühle oder in meinen Bedürfnissen von der Gesellschaft nicht so beachtet, dann kann ich mir vielleicht gerade in der Anhänger-Gruppe einer Verschwörungstheorie diese Bedürfnisse erfüllen.

Das ist ähnlich, wie wenn jemand zu Fußballfans gehört. Und noch einen weiteren Effekt, der damit einhergeht, kennt man auch vom Fußballverein: Wenn man sich die sehr begeisterten Fans einer Mannschaft anschaut, die die Tendenz haben, zu sagen, die eigene Mannschaft ist die beste und alle anderen Mannschaften sind blöd. Da ist es dann bei Verschwörungstheorien ähnlich: Ich bin besonders überzeugt von der Gruppe, der ich mich anschließe. Andere Gruppen, erst recht wieder Randgruppen, werden schneller abgewertet oder bekommen das Risiko, dass sie beschuldigt werden, hier eben an der Verschwörung.“

Sie sprachen noch von allgemeinen Risiken, die den Glauben an eine falsche Theorie begünstigen?

„Wir alle denken in sogenannten Heuristiken. Das heißt, wir versuchen Dinge vereinfacht zu erklären. Wir nehmen gerne Abkürzungen, um Informationen zu verarbeiten. Dabei gibt es dann verschiedene Anfälligkeiten für Fehler und ein möglicher Fehler, den Menschen gerne machen, ist, dass man die Wahrscheinlichkeit für die Verknüpfung von zwei Ereignissen für größer hält, als wenn die Ereignisse isoliert voneinander aufgetreten wären. – Zwei Ereignisse kombiniert, das ist so ein bisschen wie Lotto: Sechs richtige und Zusatzzahl ist eben schwieriger, als nur sechs richtige.

Wenn man anfällig ist für so eine Täuschung, für so einen Prozess, dann ist man auch wieder anfälliger für Verschwörungstheorien. Weil sie eben das machen, sie bringen Ereignisse zusammen und behaupten, da besteht eine Verknüpfung, obwohl das noch viel unwahrscheinlicher wäre, als dass die beiden Ereignisse für sich genommen schon aufgetreten sind.

Das geht dann häufig auch damit einher, das man sagt: Wenn irgendetwas bedeutsames aufgetreten ist, dann muss auch eine bedeutsame Ursache dahinter stehen. Was eben per se nicht der Fall ist. Auch, wenn eine prominente Person einen Unfall hatte, dann wird es wohl ein Unfall gewesen sein. Allerdings ist hier der Ruf sehr viel schneller da, dass man sagt: Ja, da hat aber jemand die Bremsen manipuliert, als wenn eine Lisa Müller im Auto gesessen wäre. Beispiel dazu ist der Tod von Lady Dy. Da sind ja auch Verschwörungstheorien aus dem Boden geschossen.“

Selektive Wahrnehmung, ist das auch relevant?

„Wir wissen grundsätzlich aus der Psychologie, dass unsere Informationsverarbeitung nicht immer objektiv stattfindet, sondern oftmals an bestimmten kommunikativen Verzerrungen hängen bleibt.

Ein Aspekt von selektiver Wahrnehmung ist, dass sie den Alltag beständig macht, ohne, dass wir das merken. Das ist oftmals gut für uns, weil es Wahrnehmung und Stress vereinfacht. Bloß langfristig können manchmal Effekte auftreten, die dann nicht mehr so gut sind.

Dass zum Beispiel, wenn wir nach Informationen suchen, dann gerne nach Informationen suchen, die unsere Meinung bestätigen. Das ist ein Mechanismus, der oft auftritt, wenn Unsicherheit da ist. Oder wenn etwas widersprüchliches auftritt. Auch, wenn das, was wir als Meinung oder als Einstellung haben, in Frage gestellt wird, kann es passieren, dass wir versuchen, unsere eigene Meinung zu schützen, und dabei selektiv nur noch nach den Dingen suchen, die bestätigen.

Das ist ein grundsätzliches Phänomen. Da stößt tatsächlich dann auch die menschliche Rationalität schnell an Grenzen. Wir drehen es uns halt so hin, wie wir’s brauchen. Und es ist, glaube ich, auch wichtig, das anzuerkennen. Also da nicht zu sagen: Die sind Idioten. Sondern: Mensch, so funktioniert halt unser Gehirn. Können wir auch jetzt nicht ändern, sondern müssen wir lernen, besser damit umzugehen.

Ein weiterer Risikofaktor ist auch niedrige Bildung.

Es ist und bleibt letztendlich eine komplexe Geschichte, was den Glauben an Verschwörungstheorien treibt. Ist vielleicht eine gute Erklärung, warum so viele dran glauben: Das war jetzt eine riesige Liste, die wir da durch gegangen sind. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, weil tatsächlich wahnsinnig viele Faktoren aus psychologischer Sicht dahinter stecken. Das erklärt dann vielleicht auch die 50 Prozent.“

Wenn man „Verschwörungstheorie“ hört, klingt das ja erst mal ziemlich negativ. Kann man aber – angesichts der doch eigentlich guten Effekte, die Sie aufgezählt haben – überhaupt noch ein absolut negatives Urteil darüber fällen? Kann man fragen: Ist „Verschwörungstheorie“ per se was schlechtes?

„Ich glaube, das ist eine Frage, nach welcher zeitlichen Schiene ich mir die Konsequenzen ansehe und dann auch noch des Betrachtungsaspekts: ob Person oder Gesellschaft als Kollektiv.

Wenn ich mir jetzt die Einzelperson anschaue, vielleicht prototypisch, die sich ausgegrenzt fühlt und dann über eine Verschwörungstheorie wieder Zugang zu anderen Menschen findet, dann ist das für die Person vielleicht erst mal was Gutes. Wenn das jetzt für den Einzelnen gar keinen Benefit bringen würde, dann würden diese Verschwörungsblasen ja auch nicht so attraktiv sein. Allerdings muss man auch sagen: Man stellt weniger Fragen, wird leichter beeinflussbar, hängt eben so ein bisschen fest in der Gruppe. Das ist dann ein bisschen dieses Filter-Blasen-Echokammer-Phänomen. Also, ich bin halt dann da sehr beschränkt auf das, was ich denke. Die Welt wird dann schwarz-weiß, es wird alles ein bisschen einfacher.

Ja, ist eine individuelle Entscheidung, glaube ich. Objektiv betrachtet kann man auch dann völlig in irgendwelche Parallel-Welten abdriften, aber da kann man sich dann auch als Person schon wohlfühlen. Also, so ist das nicht.

Für die Gesellschaft als Ganzes?

Problematisch wird es, wenn Menschen Institutionen immer mehr ablehnen. Grundsätzlich zeigen Studien allgemein einen Zusammenhang zwischen dem Glaube an Verschwörungstheorien und weniger Vertrauen in Regierungs- oder generellen gesellschaftlichen Institutionen. Das führt dann auch dazu, dass man häufig unzufrieden ist mit Politikern oder Wissenschaftlern. Das kann natürlich schon in gewisser Weise demokratische Grundwerte gefährden. Problematisch ist auch, wenn Personen mit ihrem Verhalten sich oder andere gefährden. Dass man dann sagt: Ich verweigere, dass ich mich gegen bestimmte Krankheiten impfen lasse, weil da werde ich manipuliert. Da ist dann die Auswirkung schon mittel- bis langfristig negativ.

Das interessante ist aber auch, dass sich den Punkt die Forschung bis jetzt nicht so gut angeschaut hat. Also, die Forschung schaut zwar sehr gut, was den Glauben an eine Verschwörungstheorie treibt und kann dann auch sehr gut Motive identifizieren. Aber die langfristige Wirkung, ob das tatsächlich zur Befriedigung der Bedürfnisse führt und ob ich damit dann glücklicher werde, als wenn ich vielleicht… doch eher in einen Sportverein gehen würde… gibt’s nicht. Das ist tatsächlich noch eine Forschungslücke für die Zukunft: Wo man schauen könnte, ob dieser Nutzen, der für die Personen dann kurzfristig entsteht, auch länger anhaltend ist. Allerdings ist das auch schwierig, weil wir ja nicht wissen können, wie die Dinge verlaufen wären, wenn die Person nicht an die Verschwörungstheorie geglaubt hätte.“

Die Zeit momentan, ist sie anfälliger für Gerüchte und Verschwörungstheorien? Und falls ja, warum?

„Gute Frage, da gibt es tatsächlich auch keine Forschung, ob wir jetzt anfälliger sind, als früher. Es gibt wohl auch keine Forschung, die sich tatsächlich den Zusammenhang zwischen Social Media und Verschwörungstheorien anschaut.

Es ist halt schon so – das ist ein Fakt, den können wir nicht wegdiskutieren – dass die Dinge durch Internet und Social Media verfügbarer und zugänglicher, für andere auch sichtbarer sind.

Das könnte ein Problem sein: Denn wenn ich jetzt nach einer Verschwörungstheorie suche, und an der hängen bleibe, mir dann gleich zehn weitere Verschwörungstheorien vorgeschlagen werden. Verschwörungstheorien gab es immer schon. Aber früher mag es eher beschränkt auf Mund-zu-Mund-Propaganda gewesen sein. Die große Zugänglichkeit heute erhöht nicht unbedingt die Anfälligkeit, aber dürfte die Wahrscheinlichkeit steigern, dass ich darüber stolpere. Und dann gibt es so viele Faktoren, die beeinflussen könnten, dass ich es vielleicht grade attraktiv finde...“

Wie umgehen? Was kann man, auch im persönlichen Kontakt, tun?

„In den Diskurs treten. Man sollte diesen Gruppen, die vielleicht an den Rand gedrängt werden oder sich an den Rand gedrängt fühlen, ernst nehmen und ihnen nicht noch weiter das Gefühl geben, abgestempelt zu werden.

Ich glaube, es wäre sehr wichtig, dass man die Leute, die daran glauben, nicht irgendwie ausgrenzt oder für dumm bezeichnet. Eher versuchen, zu verstehen: Was bewegt dich denn? Warum ist es für dich so attraktiv?

Manchmal hilft es auch, die Folgerungen aus dem Verhalten abzuleiten und aufzuzeigen, dabei gleichzeitig eine bessere Alternative anzubieten.“

Was ist mit dem Präsentieren von „harten Fakten“?

„Da gibt es spannende Forschung! Die hat nämlich gezeigt: Wenn man Menschen, die absolut überzeugt von einer Verschwörungstheorien sind, gegenteilige Fakten präsentiert, dann hat das einen nachteiligen Effekt: Dann glauben sie danach noch mehr an die Verschwörung, als vorher.

Das ist eben ein Risiko: Dass man nicht einfach so den Menschen nur Fakten präsentiert und davon ausgeht, dass würden alle schon richtig verarbeiten. Sondern, sobald ich schon mal in diesem System Verschwörungstheorie bin, reichen Fakten nicht aus. Da muss ich dann tatsächlich eher in den Diskurs treten und die Person als Ganzes ernst nehmen, auch in ihren Bedürfnissen. Dann kann ich irgendwann Fragen stellen: Ah, jetzt erklär mir mal deine Theorie genauer, wer sagt denn da was?“

Wie kann man denn dann noch schreiben?

„Das ist eine echt gute Frage. Ich habe keine einfache Antwort, das ist echt schwierig. Es gibt spannende Studien, die zum Beispiel zeigen, dass schwer lesbare Texte offenbar bei Menschen einen Bereich im Gehirn aktivieren, der kritischer denkt – und dann im Nachgang der Glaube an Verschwörungstheorien sinkt.

Jetzt kann man das aber leider schlecht auf eine Zeitung übertragen.“

Schwer lesbare Texte? Das scheint so ziemlich das Gegenteil zu bekunden, ja…

„Ebenfalls zu beachten ist auch: Bei solch einer Studie, ist ein Setting da, das sicherstellt, dass es auch gemacht wird. Wenn ich sage, ich mach einen Text im Journalismus zu anspruchsvoll und zu differenziert, dann wird der vielleicht einfach weg geklickt.

Das ist ein Punkt, da kommt man eigentlich nicht dagegen an. Ja, da muss ich eigentlich schon vorher ansetzen, und der Person irgendwie… beibringen: Suche dir doch bitte die interessanten Texte.

Man kann eigentlich nur versuchen, ein möglichst differenziertes Angebot zu machen. Mehr wird man wahrscheinlich tatsächlich nicht tun können.

Verschwörungstheorien sähen Zweifel, bauen Spannungseffekte auf, pokern mit der Überraschung. Sie können schnell entstehen, ausführliche Recherchen brauchen Zeit. So eine Verschwörungstheorie wirkt schon ein bisschen, wie ein guter Krimi. Man hat eine aufgebauschte Geschichte und einen Spannungsbogen und den hat man sonst vielleicht nicht. Dann ist es noch so schön einfach und plötzlich wird die Welt wieder erklärbar.

Das ist natürlich schon ein bisschen fies. Diese Mechanismen kann man so nicht bieten, wenn man mit Fakten arbeitet, auch als guter Journalist, weil es nicht die Idee ist: Es ist nüchtern und weniger spannend. Da hat man per se schon schlechtere Karten, einen Wettbewerbsnachteil.

Und da wirkt dann natürlich auch wieder das Internet begünstigend: Weil die Mechanismen greifen. Da ist eigentlich ein gut geschriebener Artikel und dann packt den jemand anders, verdreht den ein bisschen und plötzlich ist es schlimmer, als hätte man keinen Artikel geschrieben. Aber dagegen kann man letztlich ja kaum was tun: Also, die Alternative, den Artikel nicht zu schreiben, ist ja mindestens genauso schlecht. Problem.

Ich komme da immer wieder, für mich persönlich, beim Thema Bildung raus.“

Wie meinen Sie das?

„Das man sagt, wir müssen den Menschen dahin bringen, zu sagen: Habe doch bitte einfach per se das Bedürfnis, den besseren Artikel zu lesen. Da muss man früh anfangen, glaube ich.

Wenn das Bedürfnis nicht da ist… ganz schwierig.

Ich merke das auch in anderen Kontexten immer wieder, also, ich bin ja sonst viel im organisationalen Kontext unterwegs und was wir da häufig haben, ist: Bei Führungskräften, dass die auch einen wahnsinnigen Anklang haben, einfache Erklärungsmuster zu nutzen, warum sich der Mitarbeiter so und so verhält.

Da gibt es dann so Pseudo-Tests, die Menschen in Farben einteilen oder in Tiere, auf Wolfsrudel gemünzt. Und sobald da mal eine Führungskraft daran glaubt, dass das so ist: Helfen auch keine Argumente mehr, die ist so fasziniert davon und findet auch immer wieder Argumente dafür, dass das so sein muss: „Ja, aber ich hab da für mich voll den Nutzen, wenn ich Menschen in Alpha, Beta und Gamma einteile.“ – Wo man dann nur erwidern kann: „Sehen Sie nicht, was Sie da tun?“

Hilfreich ist ein gewisser struktureller Rahmen: Dass auch die Organisation im Gesamten das nicht toleriert und sagt: Das ist nicht unser Anspruch, den wir hier haben, du musst dich bitte auf die Mitarbeiter individuell einlassen. Da ist dann natürlich wieder persönliche Entwicklung gefragt.

Das ist jetzt nur so ein anderer Bereich, aus dem ich’s kenne: Dass man sich wirklich wahnsinnig schwer tut, die Menschen zu erreichen. Ich glaube, man kann tatsächlich nur immer wieder versuchen, wo möglich Aufklärung zu betrieben. Versuchen, in den Diskurs zu treten und Alternativangebote zu machen. Weil, wenn man’s nicht tut, dann überlässt man erst recht das Feld. Das ist dann noch blöder.“

Die weite Verbreitung, die Anfälligkeit: Haben wir denn als Gesellschaft im Ganzen eine Möglichkeit?

„Da kommen wir dann eher in eine soziologische Richtung.

Grundsätzlich: Ich muss im sozialen Kontakt eigentlich darauf bauen können, dass die andere Person rational denkt oder irgendwie eine anspruchsvollere Einstellung teilt.

Die Studien zeigen ja bereits, dass geringere Bildung ein Risikofaktor ist. Menschen aus per se niedrigeren Bildungsschichten oder Menschen, die sich ausgegrenzt fühlen, Menschen mit weniger Einkommen, sind im Allgemeinen auch anfälliger für Verschwörungstheorien.

Meine persönliche Meinung ist schon auch, dass wir gerade ein Auseinanderdriften in der Gesellschaft haben. Dadurch entstehen Ungleichgewichte, wo sich, zumindest subjektiv, immer mehr Menschen abgehängt fühlen.

Aber ganz allgemein gesprochen kommen wir natürlich wieder beim Thema Bildung heraus. Wir müssen dem Menschen beibringen, mit Informationen gut umzugehen und nicht einfach Informationen sofort als Fakten zu verstehen. Zu lernen, zu hinterfragen. Auch zu bemerken, dass man vielleicht noch weitere Informationen benötigt, nicht nur einseitig, sondern verschiedene Quellen nutzen: Bewusst mich auch mit anderslautenden Meinungen beschäftigen und da wären wir bei sozialen Kompetenz.

Dass man sagt: Wir müssen diesem Auseinanderdriften irgendwie entgegenwirken und wahrscheinlich ist dabei Bildung einer der entschiedensten Schlüssel.“

Professor Hudecek, herzlichen Dank für das Interview!

Landshut