Interview
Afghanistan-Experte zur Flüchtlingskrise: ,Frau Merkel hat eine Einladung geschickt'

17.10.2017 | Stand 31.07.2023, 3:53 Uhr
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Der Mintrachinger Reinhard Erös, Arzt und Politologe, gilt als guter Kenner des Mittleren Ostens. Seit 16 Jahren baut und betreibt er mit seiner Stiftung „Kinderhilfe-Afghanistan“ am Hindukusch über 30 Schulen und seit drei Jahren sogar eine Universität. Wir sprachen mit dem Ex-Oberstarzt der Bundeswehr über das Land, über Menschen, die hier bei uns Asyl beantragen und welche Auswirkungen der politische Rechtsruck aus seiner Sicht hat.

REGENSBURG_25KABUL Wochenblatt: Wollen alle Menschen aus Afghanistan zu uns?

Erös: Nein. Es gibt viele Menschen, die sich in ihrer Heimat wohl fühlen. Zu uns kommen vor allem junge Männer ohne Hoffnung und Lebensperspektive. Sie fühlen sich seit 2015 geradezu von uns angeworben. In Afghanistan kann man seit acht Jahren die Deutsche Welle in den beiden Landessprachen empfangen. Die Bilder von Kanzlerin Angela Merkel auf Selfies mit Flüchtlingen, von jubelnden Deutschen am Münchner Hauptbahnhof, von Berichten über eine Million freie Arbeitsplätze haben dort geradezu eine Fluchthysterie ausgelöst. Man interpretierte dies geradezu als Aufforderung, in ein Land zu kommen, das dort als Paradies gilt.

Das sind also nicht die Familien, die sich aufmachten? 90 Prozent der 220.000 Afghanen, die seit 2015 zu uns kamen, sind junge Männer, anders als die Flüchtlinge aus Syrien. Dort herrscht seit 2013 ein brutaler Krieg mit 500.000 Toten. In Afghanistan gibt es keinen Krieg wie in Syrien, aber regelmäßig Anschläge mit circa 2.500 Toten pro Jahr. Kabul ist nicht Aleppo.

Wenn über die Rückführung nach Afghanistan diskutiert wird, haben Sie das Gefühl, dass die Politiker und Medien die Situation einschätzen können?

Allein die Tatsache, dass seit 2015 mehr als 4.000 Afghanen freiwillig zurückgekehrt sind, spricht doch schon Bände. Ihr Rückflug ist kostenlos, sie erhalten ein Handgeld von 600 Euro und vielleicht noch 1.000 Euro von deutschen Freunden – und versuchen ihr Glück wieder in ihrer Heimat. Wenn aber kürzlich acht Schwerverbrecher abgeschoben werden, wird bei uns in den Medien ein Bohei veranstaltet, als würden sie am Kabuler Flugplatz sofort umgebracht. Das ist natürlich Unsinn. Anders ist es, wenn westliche Politiker dort hinfliegen. Sie sind ein Ziel der Aufständischen. Aber die Taliban kämpfen doch nicht gegen ihr eigenes Volk. Ihre Anschläge richten sich gegen die aus ihrer Sicht westliche Marionetten-Regierung, gegen Polizei, Militär und gegen eigene Kollaborateure. Dabei nehmen die Taliban Kollateralschäden bei Ihrer Bevölkerung genauso brutal in Kauf wie US-Luftangriffe seit Jahren. Mindestens 30 Prozent der zivilen Opfer sind verursacht durch US- und afghanisches Militär!

Immer mehr Verbrechen werden bekannt, die auch von Afghanen in Deutschland begangen werden. Liegt das am Wertekanon, der dort vorherrscht? Wer in Afghanistan eine Frau oder ein Kind vergewaltigt, wird vom Ehemann oder Vater umgebracht. Blutrache ist seit Jahrhunderten Teil des mittelalterlichen Wertekanons der Afghanen. Von einem durch westliche Aufklärung geprägten Rechtssystem ist man im ländlich geprägten Afghanistan noch weit entfernt. Etwas anders ist es in den Städten wie zum Kabul. Dort gibt es wieder hunderttausende junger Menschen, die eine Schule oder Universität besuchen. Aber das sind nicht die, welche zu uns fliehen. Circa 50 Prozent der Flüchtlinge aus Afghanistan können weder lesen noch schreiben. Sie waren nie in einer Schule, hatten also auch nie die Chance zu lernen und etwas über unsere Welt zu erfahren.

Kann man diese jungen Männer hier integrieren, trotz dieser Einstellungen, etwa gegenüber Frauen? Die Integration von zehntausenden völlig ungebildeten, jungen Männern aus einem mittelalterlich geprägten, islamischen Kulturkreis ist eine Herkulesaufgabe, die wir in toto sicher nicht so schnell umsetzen können, wie sich dies manch Multi-Kulti Beseelter wünscht. Das afghanische Frauenbild entspricht zum Großteil dem in Deutschland vor 50 Jahren: Kinder kriegen, den Haushalt führen, sich aus den öffentlichen Angelegenheiten möglichst raushalten. Zuhause aber sind die Frauen der ,Chef‘, sie erziehen die Kinder und sagen dort auch ihren Männern, wo es lang geht. Andererseits sind seit der neuen Verfassung von 2002 aber 28 Prozent der Mitglieder im afghanischen Parlament Frauen – exakt so viele wie im bayerischen Landtag! Zu Homosexualität findet sich am Hindukusch eine Einstellung wie bei uns noch in den 50er Jahren. Im Privatleben versteckt ist sie wie überall auf der Welt vorhanden. In der Öffentlichkeit steht sie unter hoher Strafe. CSD-Umzüge und Homo-Ehen werden daher von den meisten Afghanen bei uns – milde ausgedrückt – nicht verstanden.

Man weiß ja zwischenzeitlich, wie das berühmte Wochenende im September 2015 lief, an dem Kanzlerin Angela Merkel die Flüchtlinge aus Österreich und Ungarn nach Deutschland weiter fahren ließ. Haben Sie diese Entscheidung verstanden? Unsere Kanzlerin ist eine kopfgesteuerte Naturwissen-schaftlerin. Nicht nur ich habe daher erwartet, dass sie sich dem Thema ,Massenflucht‘ mit sauberer Planung und vorbildlich ,deutscher‘ Organisation annehmen wird. Dies war leider nicht der Fall. Von Politikern erwarte ich Verantwortungsethik statt Gesinnungsethik.

Welche Rolle spielen Schleuser in Zukunft? Die 220.00 Flüchtlinge aus Afghanistan bezahlten im Schnitt 6.000 Dollar pro Person. Die Schleuser machten also seit 2015 einen Reibach von 1,2 Milliarden Dollar. Mehr Profit als aus dem Drogenhandel. Sie werden auch in den nächsten Jahren Mittel und Wege finden, sich diese Geschäfte nicht kaputtmachen zu lassen.

Wird das Thema Flüchtlinge in den kommenden Jahren abklingen, hat man das jetzt im Griff? Ich fürchte nicht. Führende Migrations-Experten konstatieren, dass sich 100 Millionen Klima-Flüchtlinge in den kommenden Jahren auf den Weg nach Europa machen werden. Zuhause zu sterben oder sich mit hohem Risiko auf den Weg nach Europa zu machen, sind für Millionen die Alternativen. Europa abzuschotten wird nicht funktionieren. Fluchtursachen vor Ort anzugehen, ist ein mühsamer und teurer Weg. Es bedarf kluger Köpfe bei unseren Politikern; diese sehe ich nicht überall.

Sie sind viel unterwegs auf der Welt. Wie wird aus Ihrer Sicht der Wahlerfolg der AfD in der Welt gesehen? Ich kenne die AfD aus eigener Erfahrung zu wenig. In Afghanistan kennt sie niemand. Was mir auffällt, ist der Schaum vor dem Mund, wenn AfD-Akteure auftreten. Ich sehe auch keine intellektuellen Köpfe, die bei Zukunftsthemen der Außen-, Sicherheits-, Umwelt-, und Sozialpolitik Antworten liefern könnten.

Also ist es ein Rechtsruck in Deutschland? Ein kleiner! Mit verursacht auch durch das kontraproduktive Engagement vieler Medien, die Rechtspopulisten unverhältnismäßig viel Podium geboten haben.

Vielen Dank.

Regensburg