Mindestens 78 Minderjährige missbraucht:
Kirche bietet Opfern sexueller Gewalt Entschädigung

05.07.2017 | Stand 13.09.2023, 6:04 Uhr

Das Bistum Regensburg hat am Mittwoch einen Bericht über den sexuellen Missbrauch von Priestern und Angestellten im kirchlichen Dienst vorgelegt. Mehr als 2.300 Personalakten aus der Zeit zwischen 1945 und 2010 wurden dabei gesichtet. Die Bilanz ist eine schwere Hypothek für die Kirche von Regensburg: Mindestens 78 Minderjährige wurden Opfer von zehn Geistlichen, die bereits strafrechtlich belangt wurden. Wie viele Opfer es aber insgesamt sind, das ließ das Bistum im Dunkeln – die Zahl dürfte aber deutlich höher sein.

REGENSBURG Die Pforten zum bischöflichen Ordinariat im Schatten der Regensburger Domtürme sind keineswegs für jeden durchlässig. Die Türen sind elektronisch gesichert, erst nach Anmeldung öffnet sich der beeindruckende historische Bau. Die Mauern sind hoch, das hat historische Tradition: In der evangelischen Reichsstadt Regensburg hatte der Bischof seit jeher einen schweren Stand. Doch nun, im 21. Jahrhundert? Angesichts von Missbrauchs-Vorwürfen gegen Geistliche wäre es Zeit, Mauern niederzureißen. 

Eine denkwürdige Gesprächsrunde für geladene Journalisten am Mittwochmorgen lässt Zweifel aufkommen, ob die Kirche im Bistum Regensburg zu echter Transparenz findet. Nicht etwa Bischof Gerhard Ludwig Müller, sondern sein Sprecher Clemens Neck und die kirchliche Missbrauchs-Beauftragte Birgit Böhm nannten Zahlen, die erschüttern – und blieben doch im Ungewissen.

Für den Zeitraum von 1945 bis ins Jahr 2010 sichtete ein Gremium für die Aufklärung der Vorwürfe im Bistum die Personalakten von 1.460 Geistlichen, etwa 370 Diakonen und Gemeindereferenten sowie von 487 Religionslehrern. Dabei begingen „zehn Geistliche der Diözese Regensburg sexuelle Straftaten gegen 78 Minderjährige und wurden dafür gerichtlich verurteilt“, sagte Bischofssprecher Clemens Neck. Allein ein Täter, der vor 20 Jahren verstarb, missbrauchte 36 Jugendliche. Auch auf Nachfrage wollte Neck nicht nennen, wo und in welchem Umfeld diese Missbräuche geschahen. Ein zweiter Geistlicher, der noch lebt, verging sich an zwölf Minderjährigen – er wurde straf- und kirchenrechtlich verurteilt und anschließend laisiert. Wie hoch die tatsächliche Zahl der Missbrauchsfälle ist, blieb indes im Dunkeln – denn Neck sprach lediglich von den Minderjährigen, deren Missbrauchs-Täter strafrechtlich verurteilt wurden. Die Zahl der im Bistum missbrauchten Minderjährigen dürfte also viel höher liegen.

Auf einzelne Vorwürfe oder gar auf Zahlen, wie viele Opfer sich tatsächlich gemeldet haben, wollte man auch auf Nachfrage nicht eingehen. Allein: Derzeit stehen noch drei Geistliche im Visier von Ermittlungen. Einer wurde bereits strafrechtlich verurteilt, gegen einen anderen wurde das strafrechtliche Verfahren eingestellt, ihm droht nun allein das Kirchenrecht, ein negatives Urteil hat für den Geistlichen Auswirkungen etwa über Altersbezüge. Ein dritter Fall ist ebenfalls noch anhängig.

Bemerkenswert ist, dass im Bericht des Bistums kein Wort über die Ereignisse bei den Regensburger Domspatzen zu lesen ist. Dort hatte der einstige Internats-Leiter Georg Z. zwischen 1953 und 1958 nach Schilderungen von Opfern einen ganzen Harem an minderjährigen Jungen gehalten, die er missbrauchte. Teilweise unternahm er Urlaubsfahrten mit den ihm anvertrauten. Als Z. aufflog und strafrechtlich verurteilt wurde, hüllte die Kirche von Regensburg einen Mantel des Schweigens über den Fall. Heute sind Opfer von damals noch immer traumatisiert. Als Manfred van Hoven, heute 65, im Sommer 2010 die Domspatzen besuchte, wo er einst als 8jähriger missbraucht wurde, begegnete man ihm freundlich – aber auch mit dem Hinweis, dass das Geschehene doch schon sehr lange her sei.

Bischof Gerhard Ludwig, der sich zuletzt gegen das Magazin Der Spiegel wehrte, das über eine Geldzahlung an Opfer eines verurteilten und später rückfälligen pädophilen Pfarrers als „Schweigegeld“ berichtet hatte, hat bislang noch keinen Gesprächskontakt zu Opfern gesucht. „Der Bischof hat mir gegenüber aber klar gemacht, dass er sich solchen Gesprächen nicht verweigern würde“, sagte die Beauftragte des Bistums für sexuellen Missbrauch, Birgit Böhmer. Einen abschließenden Gottesdienst mit der Bitte um Vergebung schloss Sprecher Neck allerdings erst einmal aus: „Wir wollen ja gerade nicht, dass es einen Schlusspunkt gibt, sondern wir wollen, dass sich auch nächstes Jahr oder später Opfer bei uns melden können“.

Die Vergangenheits-Bewältigung der Kirche von Regensburg scheint noch keine erheblichen Fortschritte gemacht zu haben. Zwar habe „der Bischof in vielen Gesprächen und Messen vor Ort immer wieder sein Bedauern und seine tiefe Betroffenheit über das Geschehene zum Ausdruck gebracht“, wie ein Sprecher am Mittwoch sagte. Doch gleichzeitig hatte Gerhard Ludwig immer wieder relativiert, dass die Missbräuche in der Kirche ja nur einen Bruchteil aller Taten ausmachten. Für viele Opfer war aber genau dies ein Schlag ins Gesicht, denn die Kirche ist eben kein Sportverein, sondern eine Institution, die sich auf höhere Mächte beruft – eine andere Moral-Messlatte scheint hier angebracht.

Ganz anders sieht es aber mit der Kirche der Gegenwart aus. „Um soetwas zu verhindern, ist es nötig, dass kirchliche Einrichtungen transparent sind und der Umgang mit Menschen dadurch gekennzeichnet ist, dass nicht gemauert wird“, sagte Birgit Böhmer, und Clemens Neck legte nach: „Ein niedrigschwelliges Beschwerdesystem ist wichtig – es muss immer klar sein, an wen ich mich wenden kann und wer mir weiter hilft“. Das nimmt man der Kirche von Regensburg ab: Die Hausaufgaben in der Gegenwart scheint sie gemacht zu haben. Verdachtsfälle werden sofort der Polizei und der Staatsanwaltschaft gemeldet, „der auch der Erstkontakt zu dem mutmaßlichen Täter vorbehalten bleibt“, so Neck. Jetzt hat man also Sicherheits-Systeme installiert, die Täter schnell überführen sollen – oder es erst gar nicht zur Tat kommen lassen. Aber etwa eine Dokumentation der Missbräuche bei den Domspatzen fehlt. Der Name des einstigen Internats-Leiters Georg Z. wurde einfach von der Internet-Seite gelöscht, statt zu dem Geschehenen zu stehen.

Das große Mea Culpa über die Vergangenheit fehlte am Mittwoch. Über die Jahre bei den Domspatzen, wo Jungen in einem Harem gehalten wurden, Mitschüler Selbstmord begingen, ein „sadistisches System von Strafe und sexueller Lust“ geherrscht habe, wie ein Opfer seine Jahre im Internat schildert. Zumindest gibt es einen Zwischenbericht und die Opfer sollen entschädigt werden – immer dort, wo der Täter nicht mehr greifbar ist, etwa weil er schon gestorben ist. 

Neck machte am Mittwoch auch klar, warum man so lange mit dem Bericht über die Missbrauchs-Opfer gewartet habe. „Wir wollten, dass die Opfer auf jeden Fall eine Option haben, wo sie sich hinwenden können und wo ihnen geholfen wird". Die Deutsche Bischofskonferenz hat angekündigt, jedes Missbrauchs-Opfer mit 5.000 Euro für erlittenes Leid zu entschädigen. Bei der Vorstellung des Berichts am Mittwoch sagte Neck, es habe bereits Opfer gegeben, die Ansprüche geltend gemacht hätten.

Der Bischofs-Sprecher reagierte auf Kritik, wonach das Erzbistum München-Freising viel offener mit Missbrauchs-Fällen umgegangen sei, verhalten. „Ich bin nicht derjenige, der die Haltung von Kardinal Marx zu beurteilen hat", sagte Neck auf Nachfrage des Wochenblatts. Reinhard Marx hatte sich öffentlich tief erschüttert über die Missbrauchsfälle in seinem Erzbistum gezeigt.

Übrigens gab es im Vorfeld zur Messe in Paderborn, wo sich die 27 deutschen Bischöfe kollektiv entschuldigten, angeblich Ärger über die Geste. Während die einen sich wie der Osnabrücker Bischof Franz-Josef Bode zu Boden werfen wollten, plädierte die Mehrheit nur für einen Kniefall, wie ja auch geschehen am Montag. Zu welcher Fraktion Bischof Gerhard Ludwig gehörte, darüber lässt sich nur spekulieren. 

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