Betrugsfall
Ein Jahr Wirecard-Skandal - Justiz kämpft mit Aufarbeitung

25.06.2021 | Stand 26.06.2021, 9:56 Uhr

Peter Kneffel/dpa

Vor einem Jahr meldete der Dax-Konzern Wirecard Insolvenz an - eine Starfirma wurde zum mutmaßlich größten Betrugsfall in Deutschland seit 1945. Die erste Anklage rückt näher.

Ein Jahr nach der Insolvenz des Skandalkonzerns Wirecard rückt die erste Anklage näher.

Die Münchner Staatsanwaltschaft will sich bei ihren Ermittlungen offensichtlich auf Teile der Vorwürfe konzentrieren, um bei Ex-Vorstandschef Markus Braun schneller zum Abschluss und damit zur erwarteten Anklage zu kommen. Einen konkreten Termin nennen die Ermittler nicht, doch wird seit Wochen über eine Anklage in der zweiten Jahreshälfte spekuliert. Alle Aspekte des Tatkomplexes Wirecard zu ermitteln, wäre «eher eine Frage von Jahren als von Monaten», erklärt eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft. So lange dürfe man in einem Rechtsstaat niemanden in vorläufiger Untersuchungshaft behalten.

Braun und zwei andere Manager sitzen seit Sommer 2020 ununterbrochen hinter Gittern. «Wegen des besonderen Beschleunigungsgrundsatzes in Haftsachen ziehen wir insgesamt die Ermittlungen gegen in Untersuchungshaft sitzende Beschuldigte vor, soweit das überhaupt so isoliert möglich ist», sagt die Sprecherin. Dies lässt die Vermutung zu, dass es im Laufe der nächsten Jahre weitere Anklagen geben wird.

Der mittlerweile zerschlagene Konzern hatte am 25. Juni vergangenen Jahres nach dramatischen Wochen und Monaten Insolvenz angemeldet. Zunächst hatte der Zahldienstleister mehrfach die Vorlage der Jahresbilanz 2019 verschoben und schließlich eingeräumt, dass 1,9 Milliarden Euro angeblich auf Treuhandkonten verbuchter Gelder nicht existierten.

Die Staatsanwaltschaft geht von «bandenmäßigem Betrug» aus, bei dem kreditgebende Banken und Investoren um über drei Milliarden Euro geprellt worden sein sollen. Demnach soll die Wirecard-Chefetage spätestens 2015 begonnen haben, die Bilanzen mit erfundenen Umsätzen zu fälschen. Deswegen ist seit einem Jahr die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY Zielscheibe von Schadenersatzforderungen, weil der mutmaßliche Milliardenschwindel den Prüfern nicht früher auffiel.

Mittlerweile streiten die Landgerichte München und Stuttgart um die Zuständigkeit für eine Welle mehrerer hundert Zivilklagen. Das Landgericht Stuttgart hat an die 140 im Zusammenhang mit dem Wirecard-Skandal stehende Klagen gegen EY an das Landgericht München I verwiesen. In München sind damit etwa 400 Wirecard-Zivilklagen anhängig. Doch wollen die Münchner nicht allein auf diesen Verfahren sitzen bleiben.

Deswegen hat das dortige Landgericht in 21 Fällen «Gerichtsstandbestimmungsanträge» beim Oberlandesgericht Stuttgart gestellt, wie das OLG mitteilte. Sollte das Oberlandesgericht zu Gunsten Münchens entscheiden, werden die beteiligten Kammern in der bayerischen Landeshauptstadt voraussichtlich bei weiteren Verfahren die Übernahme verweigern.

Am OLG werde jeder Fall gesondert geprüft, erklärte eine Sprecherin. «Die Entscheidung ist nur für das jeweilige Verfahren bindend.» Über eine einstellige Zahl von Klagen gegen EY ist in München bereits entschieden, in diesen Fällen haben die Kläger verloren.

Bei Klagen gegen die Wirecard AG selbst ist nicht viel zu holen. Insolvenzverwalter Michael Jaffé hat bei der Zerschlagung des Konzerns über eine halbe Milliarde Euro mit dem Verkauf von Tochterfirmen erlöst, auf dieses Geld haben die Gläubiger Anspruch. Doch Gläubiger und Zehntausende Aktionäre haben im Insolvenzverfahren Forderungen von über zwölf Milliarden Euro angemeldet.

Die Schadenersatzklagen konzentrieren sich daher auf EY. «Wir bei EY Deutschland bedauern sehr, dass der Betrug bei Wirecard nicht früher aufgedeckt wurde und werden entschieden handeln, damit sich ein Fall wie Wirecard nicht wiederholt», erklärte ein Sprecher der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft.

Ungeklärt bleiben wird wohl die Grundsatzfrage: Wie war ein Betrugsfall solchen Ausmaßes überhaupt möglich? Der Untersuchungsausschuss des Bundestags hat zu Tage gefördert, dass sich von Seiten der Behörden offensichtlich niemand so richtig für die Aufsicht über Wirecard zuständig fühlte. Wichtige Hinweise auf Geldwäsche und sonstige Verdachtsmomente versandeten.

Die politische Aufarbeitung des Skandals wird an diesem Freitag mit der Schlussdebatte zum Untersuchungsausschuss des Bundestags abgeschlossen sein. Die Union lädt einen wesentlichen Teil der Verantwortung beim Finanzministerium von SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz ab, bei dem die Finanzaufsicht Bafin angesiedelt ist. Die SPD wiederum verweist auf die Rolle der Wirtschaftsprüfer, die Wirecard jahrelang tadellose Bilanzen bescheinigten - für die Aufsichtsbehörde Apas ist das CDU-geführte Wirtschaftsministerium zuständig.

Der FDP-Obmann im Ausschuss, Florian Toncar, resümierte: «Es ist, glaube ich, ein großes Ärgernis für viele Bürger, dass am Ende bei solchen Skandalen es niemanden gibt, der sich auch hinstellt und eigene Fehler einräumt.»