Keine Hoffnung mehr
43 vermisste Studenten in Mexiko für tot erklärt

19.08.2022 | Stand 21.08.2022, 7:31 Uhr

Mexiko-Stadt - 43 junge Männer wurden von der mexikanischen Regierung acht Jahre nach ihrer Entführung für tot erklärt. - Foto: Brian Torres/Zuma Press/dpa/Archiv

Seit acht Jahren werden die jungen Männer vermisst. Brutale Gangster und korrupte Polizisten haben sie verschleppt, auch deutsche Waffen kamen damals zum Einsatz. Nun erklären die Behörden die Studenten für tot.

Die Angehörigen der 43 Studenten schweigen, als sie die bittere Wahrheit erfahren. Es ist eine Stille voller Schmerz. Eine sogenannte Wahrheitskommission hat die vor acht Jahren im Südwesten von Mexiko verschleppten jungen Männer für tot erklärt.

Es gibt keine Hoffnung mehr, sie noch lebend zu finden. Mit Kisten voller Dokumente, die ihre Hoffnungen zunichtemachen, verlassen die Eltern den Nationalpalast. Zwar ist der Fall noch nicht vollständig aufgeklärt, aber jetzt schon ist klar: Neben den Drogenkartellen hat auch der Staat Blut an den Händen.

Staatliche Behörden sind in den Fall verwickelt

Am Freitag verhaftet die Polizei den früheren Generalstaatsanwalt Jesús Murillo Karam in Mexiko-Stadt. Ihm werden im Zusammenhang mit dem Fall Verschwindenlassen, Folter und Vergehen gegen die Justizverwaltung vorgeworfen. Er war zu Beginn für die Ermittlungen zu der Entführung der Studenten verantwortlich und stellte seine ersten Erkenntnisse als «historische Wahrheit» dar.

Die Studenten des Lehrerseminars von Ayotzinapa im Bundesstaat Guerrero verschwanden in der Nacht zum 27. September 2014. Der jüngste von ihnen war damals gerade einmal 17 Jahre alt. Polizisten hatten sie verfolgt, beschossen, überwältigt und schließlich an das Drogenkartell Guerreros Unidos übergeben. Sechs Menschen kamen ums Leben, 25 wurden verletzt. Mehrere der eingesetzten Waffen stammten vom deutschen Rüstungskonzern Heckler & Koch.

Sogar in einem Land mit mehr als 100 000 vermissten Menschen ist der Fall der Studenten außergewöhnlich. Es sei ein Staatsverbrechen gewesen, sagt der Leiter der Wahrheitskommission, Alejandro Encinas. Die Fotos der Angehörigen aus einfachen Bauernfamilien mit den Bildern ihrer Jungen gingen um die Welt. Nur Knochenfragmente von drei der Vermissten wurden bislang gefunden.

Warum mussten die Studenten sterben?

Die Gründe für den Angriff auf die Studenten sind noch immer unklar. Die jungen Männer hatten zuvor in der Stadt Iguala mehrere Busse gekapert, um zu einer Demonstration in die Hauptstadt Mexiko-Stadt zu fahren. Das war aber üblich in der kämpferischen linken Landuniversität von Ayotzinapa - und wurde eigentlich geduldet.

Der Bericht der Wahrheitskommission nennt nun drei Hypothesen für die Gewalteskalation: Erstens: Das örtliche Drogenkartell Guerreros Unidos könnte unter den Studenten jemanden mit Verbindungen zu einer rivalisierenden Bande identifiziert haben. Zweitens: Die große Gruppe von jungen Leuten wurde mit Gegnern verwechselt. Drittens: In einem der gekaperten Busse befanden sich versteckte Drogen oder Geld.

Alle Ebenen des Staates tragen eine Mitverantwortung für das Schicksal der Studenten, wie Kommissionschef Encinas sagt. Auch das Militär. «Ihre Taten, ihre Beteiligung und ihr Unterlassen ermöglichten das Verschwinden und die Hinrichtung der Studenten sowie die Tötung von weiteren sechs Personen.»

Die Familien der Opfer wollen sich zunächst nicht äußern. Die Ergebnisse seien zu schmerzhaft für sie, sagen ihre Vertreter.

Das Dokument ist ein Kompendium des Horrors: Wichtige Augenzeugen wurden demnach im Laufe der Ermittlungen getötet. 77 Verdächtige wurden von Beamten gefoltert und wieder auf freien Fuß gesetzt. Der nun verhaftete Top-Ermittler Murillo Karam hatte kurz nach dem Verschwinden angekündigt, die jungen Männer seien getötet und auf einer Müllkippe verbrannt worden. Diese Version wurde von unabhängigen Untersuchungen allerdings komplett verworfen.

Präsident Andrés Manuel López Obrador setzte 2018 nach seinem Amtsantritt die Wahrheitskommission ein, um den Fall zu überprüfen und die Studenten zu suchen. Die Angehörigen bekamen einen neuen Grund zur Hoffnung. «Wir haben von Anfang an gesagt, dass wir die Wahrheit sagen, wie schmerzhaft sie auch sein mag», sagt López Obrador nun am Freitag. Der Fall wird nicht zu den Akten gelegt, verspricht der Präsident. Die Ermittler sollen weiter nach den Verantwortlichen fahnden. Noch ist das wohl monströseste Verbrechen der jüngeren Geschichte in Mexiko nicht aufgeklärt.

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