Demonstrationen
Corona-Proteste: Katz und Maus mit «Spaziergängern»

18.01.2022 | Stand 01.02.2022, 17:03 Uhr

Proteste gegen Corona-Politik - Demonstrierende auf der Straße in Nürnberg. - Foto: -/dpa

Gängelt der Staat die Bürger mit seinen Maßnahmen gegen Corona? Das Für und Wider treibt Tausende Menschen auf die Straßen. Die Polizei sieht sich provoziert - und oft auch attackiert. Läuft da etwas aus dem Ruder?

Fast jeden Tag jetzt dieses Katz-und-Maus-Spiel, diese neue Unübersichtlichkeit bei den Corona-Protesten auf Deutschlands Straßen. Auch am Montagabend waren wieder Zehntausende unterwegs.

Selbst ernannte «Spaziergänger», die sich auf Telegram verabreden, aber keine Demonstration anmelden. Friedliche Gegner von Impfpflicht und Corona-Auflagen, die sich zu unrecht mit Rechtsextremisten in einen Topf geworfen sehen. Gegendemonstranten, die als letzte Bastion der Vernunft auftreten. Gerät der Rechtsstaat beim Versammlungsrecht an seine Grenzen im dritten Jahr der Pandemie?

Jörg Radek würde das so nicht stehen lassen. Der Vizechef der Gewerkschaft der Polizei formuliert es im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur lieber so: «Es ist eine polizeiliche Herausforderung, weil wir sehr kleinteilige Versammlungen haben an unterschiedlichen Orten, und wir versuchen müssen, gleichzeitig an diesen Orten zu sein.» Schwierig werde es, «wenn man an einem Tag in Sachsen an 170 Orten gleichzeitig Versammlungen hat». Da müssten sich Landes- und Bundespolizei gegenseitig helfen.

Die Teilnehmerzahlen bewegten sich an diesem Montag insgesamt im deutlich sechsstelligen Bereich. Laut einer Schätzung, die auf Polizeiangaben beruht, waren es sicher weit mehr als 150.000 - möglicherweise aber noch sehr viel mehr. Allein in Baden-Württemberg zählte die Polizei 326 Termine und rund 64 700 Teilnehmer. In Thüringen kamen 21 000 Menschen zu 87 Kundgebungen und Aufzügen. Mal waren es 1100 in Bitterfeld, mal 1200 in Bautzen. Und so weiter - längst nicht nur in Ostdeutschland, sondern bundesweit.

Die Veranstaltungen würden immer kleinteiliger, die «Spreizung» mache es den Behörden immer schwerer, sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser schon vergangene Woche im Deutschlandfunk. Demonstrieren könne man in angemeldeten Versammlungen. «Dafür muss ich nicht die Sicherheitsbehörden versuchen auszutricksen.»

Insbesondere die sogenannten Spaziergänge werden oft nicht angemeldet, weil sonst Auflagen gemacht werden können, etwa die Einhaltung von Abständen oder eine Maskenpflicht. Aber könnte man die Menschen nicht einfach laufen lassen? «Teils wird zunächst wirklich nur spaziert», räumt Radek ein. «Aber es liegt ja in der Natur des Versammlungsrechts, dass man signalisieren will, wofür man demonstriert. Irgendwann kommt der Punkt, wo Parolen gebrüllt werden.» Er nennt es perfide, dass Corona-Auflagen und der Infektionsschutz der Beamten bewusst missachtet würden.

«Wir treffen immer mehr gewaltbereite Teilnehmer, das Aggressionspotenzial steigt», sagt die Rostocker Polizeipräsidentin Anja Hamann. In der Hansestadt heizte sich die Stimmung auch am Montagabend auf. Die Polizei meldete Angriffe auf Beamte, fuhr selbst Wasserwerfer auf und kesselte Demonstranten. Schon in den vergangenen Wochen wurden immer wieder Polizisten verletzt. «Es wird gespuckt, körperlich attackiert, die Kollegen werden einer Infektionsgefahr ausgesetzt, Erwachsene gehen mit Kindern auf ihren Schultern dicht an die Polizeiketten heran, um zu provozieren», weiß auch Gewerkschafter Radek.

Schlagen, Spucken, Provokationen mit Kindern: Wer geht da überhaupt auf die Straße? Die Frage stellt sich seit Monaten immer wieder neu. Inzwischen häufen sich Warnungen vor einer Unterwanderung durch Extremisten. Innenministerin Faeser spricht von einer Instrumentalisierung der Proteste. Diese zielten teils gar nicht auf die Corona-Maßnahmen, sondern gegen den Staat. Bei einer Berliner Demo am Montagabend hieß es: «Merkel, Spahn, Steinmeier, Drosten in den Knast». Ein Redner schimpfte, die «deutschen Medien» seien «gleichgeschaltet» wie 1933.

Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, sieht unter Corona-Demonstranten eine neue Szene von Staatsfeinden, die Kategorien wie Rechts- oder Linksextremismus sprengen. «Sie lehnen unser demokratisches Staatswesen grundlegend ab», sagte Haldenwang der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung». Zunehmend sei die Polizei Feindbild. «Einsatzkräfte werden nicht nur bei den Protesten, sondern auch im virtuellen Raum zunehmend angefeindet und beispielsweise als "Söldner" oder "Mörder des Systems" diffamiert.»

Mit Extremisten habe man rein gar nichts zu tun, betonten hingegen die Organisatoren von #friedlichzusammen bei einer Demonstration am Wochenende in Berlin. Ausdrücklich distanzierten sie sich von «Nazis, Antisemiten, Holocaust-Leugnern und allen extremistischen Weltanschauungen». Sie wandten sich gegen Beschränkungen für Ungeimpfte wie 2G oder 3G und gegen eine mögliche Impfpflicht. Bilder der Demo zeigten friedliche Menschen in Daunenmänteln. Transparente warnten aber auch hier vor angeblich manipulierten Medien und einer angeblichen «Diktatur».

Solche Diktatur-Vergleiche wiederum regen nicht nur die Berliner Pfarrerin Aljona Hofmann auf. Sie spricht für die Gethsemanekirche, zu DDR-Zeiten ein Treffpunkt der demokratischen Opposition. «2022 ist nicht 1989», betonte Hofmann vor einigen Tagen in einem Tweet und berichtete von Störungen bei Andachten «durch Pöbeleien bis hin zum Hitlergruß». Am Montagabend mobilisierte die Initiative Gethsemanekiez nach eigenen Angaben 200 Menschen gegen «Diktatur-Verharmloser und Corona-Protestler».

Solche Gegeninitiativen gibt es nun vielerorts. In Sachsen gründeten sich «Bautzen gemeinsam» oder «#Wir lieben Freiberg» gegen rechtsextreme Proteste. In Jena demonstrierten am Montag Dutzende Menschen unter dem Motto «Ausspaziert» und trafen auf etwa gleich viele Gegner der Corona-Maßnahmen. Ähnliche Gemengelage schon am Wochenende in Freiburg in Baden-Württemberg: Erst 2500 Menschen gegen Corona-Verharmlosung, dann 6000 Menschen gegen Corona-Impfzwang.

Mittendrin steht die Polizei. «Dass es Demonstrationen und Gegendemonstrationen gibt, ist kein neues Phänomen», sagt Radek. «Wir als Polizei müssen erkennen: Wer sind die, die den Staat provozieren wollen?»

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