Mit Beginn der Fußball-EM werden hierzulande die Nationalfarben wieder allerorten zu sehen sein. Wie im Sommer 2006. Wird es wieder so unbeschwert? Eine Gratwanderung zwischen Sport und Nationalstolz.
Unverkrampft soll er am besten sein, der Umgang mit der deutschen Flagge. Also irgendwie: abgebrüht, aufgeklärt, vielleicht sogar ausgelassen und jubelnd. Am liebsten so wie beim Sommermärchen 2006, als zur Fußball-Weltmeisterschaft vor dem Brandenburger Tor und an anderen Public-Viewing-Plätzen hierzulande ein Meer aus Schwarz-Rot-Gold dominierte.
Ein Symbol der Identifikation
„Die Deutschen identifizieren sich mit ihrem Land und seinen Nationalfarben“, frohlockte damals der amtierende Bundespräsident Horst Köhler. „Ich finde gut, dass ich nicht mehr der Einzige bin mit einer Flagge am Auto.“ In den Supermärkten kann man sich aktuell wieder mit Autospiegelüberziehern oder Schminkstiften in Schwarz-Rot-Gold eindecken.
Eine Flagge und ihre Farben stehen für eine soziale Identität, in der sich Menschen einer gewissen Gruppe zugehörig fühlen. Das war 2006 sicherlich so. Und heute im EM-Jahr 2024? Ist die Tuchfühlung weiterhin so ungezwungen zu einem Stück Stoff, das im Kern so viel gebrochene Geschichte, Politik, Vorurteile und Nationalstolz in sich trägt?
„Der entscheidende Punkt ist, ob die Nationalfarben inklusiv oder exklusiv verwendet werden“, sagt Julia Becker von der Universität Osnabrück. Die Professorin für Sozialpsychologie beschäftigt sich unter anderem mit Rassismus, Diskriminierung und Identität. „Inklusiv bedeutet, dass man mit Schwarz-Rot-Gold Vielfalt und Diversität assoziiert. Das wäre ein eher unverkrampfter Umgang.“
Für problematischer hält die Wissenschaftlerin einen exklusiven, also ausschließenden Ansatz. „Wenn man sich also etwa auf die Ideen der sogenannten deutschen Leitkultur stützt oder Migranten und Migrantinnen ausschließt, dann kann man nicht mehr von einem unverkrampften Umgang sprechen, weil auch ganz klar Rassismus befördert werden kann.“
Ein zwiespältiges Verhältnis
Einfach ist es mit Schwarz-Rot-Gold eigentlich nie gewesen. Rückblick 2013: Selbst die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel kann im Triumphmoment ihrer CDU nach dem Sieg bei der Bundestagswahl offenbar nicht viel mit der Deutschlandflagge anfangen. Ihrem glückseligen Generalsekretär Hermann Gröhe nimmt sie seinerzeit ein Fähnchen aus der Hand, bevor er auf der Bühne zur Siegespose ansetzen kann. Seitdem wird der kurze Clip nicht nur von Rechtsradikalen herangezogen, um der Ex-Regierungschefin der Bundesrepublik absurderweise eine deutschlandfeindliche Haltung zu unterstellen.
Dabei haben ultrakonservative und radikale Rechtsaußen-Gruppen selbst ein zwiespältiges Verhältnis zu den Nationalfarben: Die einen tragen Schwarz-Rot-Gold etwa aktuell unter dem Stichwort „Stolzmonat“ wie eine Standarte in ihren Profilbildchen vor sich her, um der Regenbogenfahne der Queer-Bewegung im Pride Month Juni plakativ einen Nationalstolz entgegenzustellen. Andere wiederum schwenken nicht selten auf rechtsextremen Demonstrationen auf den Kopf gestellte Deutschlandflaggen. Soll wohl heißen: Deutschland ja, aber nicht in seiner demokratisch-bundesrepublikanischen Form.
Historische und moderne Perspektiven
„Wenn Leute etwa von der AfD die Flagge nutzen, dann ist das deutlich exklusiv“, sagt Wissenschaftlerin Becker. Wenn man sich sehr stark mit Deutschland identifiziere, könne das in eine Voreingenommenheit gegenüber Außenstehenden umschlagen. „Diese Gefahr besteht immer, auch wenn von einem unverkrampften Umgang mit der Flagge die Rede ist.“
Dabei sollten die Farben einst die Einigung symbolisieren: Seinen Ursprung hat Schwarz-Rot-Gold in der freiheitlichen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts zur Überwindung der Kleinstaaterei auf deutschem Boden. Als Urform der Trikolore gilt jene schwarz-rote Fahne mit goldenen Fransen, die im Frühjahr 1813 für das Lützowsche Freikorps, einer Kampfeinheit während der Befreiungskriege gegen Napoleon, angefertigt wurde.
Über den Lauf der Jahrzehnte wird Schwarz-Rot-Gold immer wieder die Trikolore der Deutschen: erst kurzzeitig nach der Märzrevolution 1848, dann später in der Weimarer Republik (1919-1933) als Abgrenzung zum Schwarz-Weiß-Rot des untergegangenen deutschen Kaiserreichs.
Nach der Hakenkreuzfahne in der Zeit des Nationalsozialismus (1933-1945) entscheiden sich beide neu gegründeten deutschen Staaten wieder für Schwarz-Rot-Gold. Zunächst sehen ihre Flaggen gleich aus, ab 1959 zeigt die Ost-Fahne das DDR-Staatssymbol aus Hammer, Zirkel und Ährenkranz. Letztlich gibt die Deutsche Einheit den drei Farben eine neue Wendung der Zusammengehörigkeit.
Nationalstolz und Vielfalt im EM-Jahr
Und anno 2024? „Vermutlich wird es so sein, dass auch Menschen, die sonst nicht besonders national-stolz sind, beim Public Viewing Nationalflaggen tragen oder sich Schwarz-Rot-Gold ins Gesicht malen“, sagt Sozialpsychologin Becker. Darunter seien sicherlich auch Deutsche mit Migrationsgeschichte in der Familie. „Wenn das um einen herum alle machen, dann wird das ja auch ein wenig normalisiert. Bei diesen Menschen wäre auch kein besonderer Anstieg in Rassismus zu erwarten im Vergleich zu denjenigen, die sich sehr stark mit Deutschland identifizieren.“
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