100. Todestag
Der Hetzer mit der Lausbuben-Maske: Ludwig Thoma

26.08.2021 | Stand 15.09.2021, 10:00 Uhr

Der Schriftsteller Ludwig Thoma.- Foto: dpa

Kann man Werk und Autor trennen? Eine Frage, die sich immer öfter stellt. Einer, bei dem sogar die einzelnen Werke sich fundamental unterscheiden, ist Ludwig Thoma. Soll man ihn noch lesen?

Was mag Ludwig Thoma gedacht haben, wenn seine Kollegen bei der kaiserzeitlichen Satirezeitschrift «Simplicissimus» sich über die von ihnen sogenannten Antisemitenhäuptlinge lustig machten und deren Ideologie demaskierten?

Hat er heimlich die Faust geballt, weil er so dachte wie die Judenhasser?

Der Schriftsteller setzte mit den in den 1960er Jahren verfilmten «Lausbubengeschichten» dem bayerischen Schlingel, der der Obrigkeit eine lange Nase dreht, ein Denkmal und saß selbst wegen «öffentlicher Beschimpfung einer Einrichtung der christlichen Kirche» in Haft. Gleichzeitig war er in seinen späten Jahren eine Art Hassprediger. Vor 100 Jahren, am 26. August 1921, starb der einstige Rechtsanwalt am Tegernsee.

Zum Lebensende war Thoma ein verbitterter, mit 54 Jahren gar nicht mal so alter Mann. Er ging, das ist so traurig wie wahr, mit der Zeit, als er im Ersten Weltkrieg seine Kritik an Staat und Gesellschaft über Bord warf und zum eifrigen Kriegsbefürworter wurde - und danach zum geifernden Judenhasser.

Urbayerischer als bei Thoma kann man sich kaum eine Herkunft vorstellen: Geboren zur Zeit König Ludwigs II. im Holzschnitzer- und Passionsort Oberammergau, der Vater Förster, die Mutter Gastwirtin. Er studiert Jura und wird Anwalt in Dachau, ist auch journalistisch tätig, wird 1898 Redakteur beim «Simplicissimus» und verlässt ihn 1917. Daneben schreibt er zahlreiche Komödien wie die «Lausbubengeschichten», die auf eigenen Erlebnissen beruhen.

Recht libertär hält der Lausbub Thoma es auch privat: 1907 heiratet er eine philippinische Tänzerin, doch 1910 zerbricht das Eheglück. Thoma zieht als Sanitäter in den Krieg. Er entfernt sich weiter von seinen regierungskritischen Satiren, in denen er das bayerische Parlament als «schwärzer als die Kohle», «frömmer als die Taube» und letztlich «das Allerdümmste» schmähte. 1918 beginnt er eine Affäre mit einer verheirateten Frau. Sie entstammt einer bedeutenden jüdischen Familie aus dem Rhein-Main-Gebiet.

Am Ende des Lebens verliert Thoma anonym im berüchtigten «Miesbacher Anzeiger» alle Hemmungen: Er wütet gegen «Sau- und Regierungsjuden» in Berlin und droht, sie würden geschlagen, bis sie «in keinen Sarg mehr» hineinpassten, sollten sie die Bayern entwaffnen wollen.

Als das alles in den 80er Jahren bekannt wird, ist das Entsetzen groß. Und heute? Keine Blumen zum Todestag? Die Stadt Dachau plant: nichts. Auch die Ludwig-Thoma-Gemeinde Dachau, die kulturelle Veranstaltungen bietet, muss passen. Nun ja, Corona.

«Wir versuchen, einen differenzierten Ansatz zu verfolgen und beidem gerecht zu werden, auf der einen Seite der bedeutende Schriftsteller und auf der anderen Seite in seinen letzten Lebensjahren der antisemitische Hetzer Ludwig Thoma», sagt Tobias Schneider, Leiter des Dachauer Kulturamtes. «Ludwig Thoma ist natürlich mit der Stadt Dachau eng verbunden. Wir betrachten aber schon seit vielen Jahren die höchst unterschiedlichen Seiten seiner Persönlichkeit und seines Schaffens sehr nüchtern.»

Und auch im Ludwig-Thoma-Haus in Tegernsee, dem einstigen Wohnhaus des Autors, herrscht Stille. «Aufgrund der aktuellen Lage» und Renovierungsarbeiten ist dort derzeit geschlossen. Doch es gibt Vermutungen, es könnte ganz aus sein mit dem Haus, das durch die Landeshauptstadt München verwaltet wird. Die zeigt sich auf Anfrage schmallippig: «Aufgrund der Corona-Pandemie sind aktuell keine Veranstaltungen geplant. Zur Zukunft des Hauses ist der Meinungsbildungsprozess noch nicht abgeschlossen.» Groß war der Besucherandrang nicht: 150 Gäste waren es 2018, etwa 200 in 2019.

Soll man Thoma lieber vergessen? Das nicht, findet Waldemar Fromm, Leiter der Arbeitsstelle für Literatur in Bayern. Man müsse  Kommentator und Mensch auf einander beziehen. «Daraus ergibt sich ein widersprüchliches Bild der Gesamtpersönlichkeit, bei dem man die Widersprüche nicht auflösen kann.» Man solle bei Interesse den ganzen Thoma lesen, doch es gelte, den Autor nicht schützend vor die Person zu stellen. «Der politische Kommentator Thoma fordert unter anderem dazu auf, Menschen anderen Glaubens oder einer anderen politischen Überzeugung umzubringen. Thomas Kommentare im "Miesbacher Anzeiger»" waren zur Zeit der Entstehung inakzeptabel, unmenschlich und antidemokratisch, sie sind es heute noch und werden es auch in Zukunft bleiben.»

Und so bleibt zum Todestag wohl eher wenig Gedenken, sondern vielmehr eine Debatte darum, ob München noch eine Ludwig-Thoma-Straße haben oder sie umbenennen sollte. Sie scheint entschieden, für Thoma. Fromm ist der Ansicht, man solle bei Straßennamen das gesamte Leben im Blick haben. Dann könne man Thoma nicht würdigen.

André Postert, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden, wirft ein grundsätzliches Problem bei Straßennamen auf: «Letztlich geht es hier um Gewichtungen: Hat uns eine Person der Geschichte weiterhin Positives mitzuteilen oder etwas von Wert mit auf den Weg zu geben? Überwiegt das Positive das Fremde? Diese Fragen sollte und kann man nicht mit einem Kriterienkatalog beantworten. Darüber muss gesellschaftlich und auch politisch gesprochen werden.» Bei Thoma zumindest scheint klar: Wer über den «Lausbuben» lacht, kann den Hetzer nicht mehr ausblenden.