Solche Bilder sorgen in den Hochwassergebieten Süddeutschlands für Empörung: Menschen surfen auf reißenden Flüssen, schwimmen darin und fahren Kajak. Andere ignorieren Absperrungen und behindern Hilfskräfte. Wie lässt sich das erklären?
Hochwasser im Newsblog: So ist die Lage in Bayern und der Region
Antworten gibt die Psychologin Martina Grunenberg, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Sozial- und Organisationspsychologie der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Grunenberg spricht über die Wirkung rücksichtslosen Verhaltens auf Flutopfer und erklärt, warum man Schaulustige nicht als „Gaffer“ abstempeln sollte.
Frau Grunenberg, wie erklären Sie das Phänomen Hochwassertourismus?
Grunenberg: Schaulustige sind meist von Neugier getrieben, einem zutiefst menschlichen und evolutionär bedeutsamen Motiv: Man möchte das Ausmaß der Krise verstehen und sich vergewissern, dass keine eigene Gefahr droht. Hinzu kommt eine gewisse Sensationslust gepaart mit der seltenen Gelegenheit, ein extremes Naturereignis hautnah zu erleben. Manche suchen auch Anerkennung auf Social Media. Diese Faszination am Geschehen und eigennütziges Denken können die Risikowahrnehmung überlagern. So wird oft unterschätzt, wie sehr das eigene Verhalten die Einsatzkräfte behindert, oder dieser Aspekt wird gar nicht bedacht, da andere, egoistischere Motive überwiegen.
Warum begeben sich Menschen sogar in noch größere Gefahren, als sie das reine Schauen bedeuten, etwa durch Surfen und Kajakfahren auf reißenden Flüssen?
Grunenberg: Extreme Erlebnisse wie diese sind eng verknüpft mit der Suche nach Nervenkitzel. Für manche Menschen macht das Risiko einen Teil der Anziehung aus – es geht ihnen um den Adrenalinkick, der in Alltagsaktivitäten fehlt. Insbesondere Extremsportler sind bekannt dafür, die eigenen Grenzen auszutesten und sich riskanten Herausforderungen zu stellen, sodass sie von solchen seltenen Gelegenheiten stärker angesprochen werden. Dazu kommt, dass man die eigenen Fähigkeiten und voraussichtlichen Reaktionen in Gefahrensituationen systematisch überschätzt. Bei jungen Menschen verstärkt auch ein Gefühl der Unverwundbarkeit selbstgefährdendes Verhalten.
Für die Wassersportler gab es in sozialen Medien sehr viel Kritik, aber auch Unterstützung – nach dem Motto: Die machen das Beste aus der Situation, lasst denen ihre Freiheit. Wie ordnen Sie das ein?
Grunenberg: Diese Reaktionen spiegeln zwei unterschiedliche Wertvorstellungen wider, die oft in gesellschaftlichen Diskussionen auftauchen: Das ist einerseits der Wunsch nach individueller Freiheit. Man möchte selbst entscheiden, ob man Risiken eingeht. Gleichzeitig empfinden manche eine Übersättigung an Mahnungen und Verhaltensregeln. Andererseits wünschen sich die Kritiker mehr Sicherheit und gegenseitige Rücksichtnahme und setzen sich daher für mehr Vorsicht und Risikobewusstsein ein. Ihrem Moralempfinden nach sollte niemand einen persönlichen Vorteil aus Situationen ziehen, die für andere mit ernsthaften Schwierigkeiten verbunden sind.
Wieso halten Menschen sich selbst in extremen Notlagen nicht an Anweisungen von Rettungskräften und bepöbeln diese teils sogar?
Grunenberg: In diesen Situationen können die Motive von Neugier, Sensationslust oder Eigennutz die Verhaltensanweisungen von außen überlagern. In manchen Fällen ist auch eine grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber Autoritäten denkbar. Das Pöbeln kann beispielsweise darauf zurückgeführt werden, dass die Schaulustigen in eine Verteidigungshaltung gehen: Sie müssen ihr kritisiertes Verhalten rechtfertigen und das geht am leichtesten, indem sie die Gegenmeinung und damit die andere Person abwerten. Viele weitere Gründe wie Anonymitäts- und Gruppenprozesse oder antisoziale und narzisstische Haltungen können ebenfalls eine Rolle spielen.
Wie wirkt rücksichtsloses Verhalten auf die Flutopfer, die Hab und Gut verloren haben oder Angehörige vermissen? Ist das für diese Menschen gerade überhaupt ein Thema?
Grunenberg: Rücksichtsloses Verhalten von Schaulustigen kann für Flutopfer, die gerade einen schweren materiellen und emotionalen Verlust erlitten haben, natürlich sehr belastend sein. Sie könnten es als Gleichgültigkeit gegenüber ihrem Leid wahrnehmen und sich dadurch hilflos, missachtet und der öffentlichen Neugier ausgeliefert fühlen. Bei der akuten Krisenbewältigung dürften zwar die eigenen unmittelbaren Bedürfnisse und Sicherheitsmaßnahmen im Vordergrund stehen. Dennoch ist es für Betroffene auch im Rückblick problematisch, wenn Schaulustige zu Verzögerungen von Rettungsmaßnahmen führen oder durch Fotoaufnahmen ihre Privatsphäre verletzen.
Sind Leute wie die Hochwassersurfer irgendwie für vernünftige Ansagen zu erreichen?
Grunenberg: Werden Schaulustige negativ als „Gaffer“ abgestempelt, bewirkt dies selten eine Verhaltensänderung, wenn man sich nicht angesprochen fühlt, getreu dem Motto: „So schlimm verhalte ich mich ja nicht.“ Die Art und Weise der Kommunikation ist also entscheidend: Direkte, klare, faktenbasierte und dennoch empathische Botschaften sind am wirksamsten. Handlungsalternativen sollten aufgezeigt werden. Auch emotionale Appelle, die die Konsequenzen des Handelns für sich selbst und andere verdeutlichen, können effektiv sein. Zudem sollte man für die systematische Selbstüberschätzung sensibilisieren. Im Idealfall geschieht dies alles präventiv.
kna
Das Interview führte Christopher Beschnitt
.