Mit der Stille der Nacht brechen über einige Regensburger die Sorgen herein. Manche wählen dann die Nummer der Telefonseelsorge – und landen womöglich bei Björn, der seit 17 Jahren dort ehrenamtlich arbeitet. Die MZ hat ihn gemeinsam mit Michaela Fröhlich vom Leitungsteam der Telefonseelsorge zum Interview getroffen.
Lesen Sie auch: Ein Gespräch über Leben und Tod mit Palliativärztin Dr. Gabriela Marthy
Björn ist nicht der echte Name des Mannes, bei der Telefonseelsorge steht die Anonymität im Fokus, jeder Mitarbeiter bekommt ein Alias. Im Herbst starten neue Ausbildungskurse – mehr Infos dazu gibt es am Textende.
Was ist Ihnen durch den Kopf gegangen, als Sie vor 17 Jahren zum ersten Mal den Hörer der Telefonseelsorge abgenommen haben?
Björn: Wir werden auf die Gespräche im Rahmen unserer Ausbildung gut vorbereitet. Ich durfte neben Kollegen sitzen und zuhören. Vor meinem ersten eigenen Gespräch hatte ich natürlich ein mulmiges Gefühl, aber nur zu Beginn. Ich habe mich schnell auf die Anruferin konzentriert. Gleich mein erster Einsatz war eine Nachtschicht mit tiefgreifenden Gesprächen – ein Anrufer hatte auch Suizidabsichten.
Frau Fröhlich, was muss man können, um bei der Telefonseelsorge zu arbeiten?
Michaela Fröhlich: Man braucht keine besonderen beruflichen Vorkenntnisse. Bei uns arbeiten Menschen aus dem sozialen Bereich, aber auch Handwerker, Rentner oder Studenten. Man sollte aber emphatisch sein, sich gut in andere Menschen hineinversetzen können. Und man sollte sich gut abgrenzen können, um nicht alles mit heim zu nehmen, was einem die Klienten am Hörer erzählen. Darauf wird man aber in der Ausbildung vorbereitet.
Was lernt man dort?
Fröhlich: Die Ausbildung dauert rund ein Dreivierteljahr. Es geht viel um Selbsterfahrung und um ressourcenorientierte Gesprächsführung.
Ressourcenorientierte Gesprächsführung?
Fröhlich: Das bedeutet, im Gespräch beim Anrufer zu bleiben und zu versuchen, seine Stärken vorzubringen. Man zeigt beispielsweise auf, wie er es in der Vergangenheit aus solchen Situationen geschafft hat. In der Regel wissen die Leute selbst, was ihnen guttut und sind nur ein wenig vom Weg abgekommen.
Björn: Es geht darum, Leute aus ihrem Loch ein wenig anzuheben, sie dazu zu ermutigen, wieder am Leben teilzunehmen.
Wer ruft denn eigentlich bei Ihnen an − und welche Themen bringen die Anrufermit?
Björn: Schon das Alter ist sehr gemischt. Das gilt auch für die Themen. Es fängt bei Einsamkeit an, es geht um Gewalterfahrungen, Traumatisierungen, Suizidgedanken- und sogar absichten. Die sind manchmal bereits sehr konkret. Dazu kommen Trennungen oder soziale Beziehungen, die sich verändert haben. Es gibt nichts, was es nicht gibt. Wenn ich den Hörer abnehme, kann alles kommen – aber das macht es ja so interessant.
Wie geht man bei solchen Gesprächen vor?
Björn: Erst mal zuhören, für den anderen da sein, ihn erzählen lassen. Man sollte das Gespräch aber auch ein wenig führen, ohne dabei allerdings Ratschläge zu erteilen. Ich versuche, mit dem Anrufer gemeinsam einen Weg zu finden, um das Problem zu lösen.
Bleiben manche Gespräche im Gedächtnis?
Björn: Sicherlich − aber es darf ja auch sein, dass ein Anrufer in meinem Herzen bleibt. Ich habe zum Beispiel schon Kerzen für Menschen angezündet.
Wie geht man mit den schweren Schicksalen um, die man am Telefon zu hören bekommt?
Björn: Ich weiß, dass ich auf die Unterstützung unserer Vollzeitkräfte zählen kann. Dazu kommen Gespräche mit Kollegen – und Supervisionen. Wir treffen uns alle drei Wochen, um zu besprechen, wie es uns im Dienst ergangen ist. Das ist auch wichtig, um Telefonate auch mal aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.
Klingelt das Telefon nachts häufiger?
Björn: Das ist von Nacht zu Nacht unterschiedlich. Es ist aber schon oft so, dass manche Gedanken nachts drängender werden. Die Menschen reflektieren, was am Tag passiert. Manche quälen die Gedanken so, dass sie nicht schlafen können und jemanden zum Reden brauchen.
Fröhlich: Wir sind 24 Stunden über die (0800)1110111 oder (0800)1110222 erreichbar. Dazu gibt es ein Chat-Angebot unter www.telefonseelsorge.de. Viele Menschen rufen nachts an, um die Zeit zu überbrücken, bis sie sich an Beratungsstellen oder Freunde wenden können.
Wie viele Mitarbeiter arbeiten bei der Telefonseelsorge und wie läuft eine Schicht am Hörer ab?
Fröhlich: Wir haben über 100 Mitarbeiter, trotzdem brauchen wir jedes Jahr einen Ausbildungskurs, um zu gewährleisten, dass wir rund um die Uhr erreichbar sind. Am Tag arbeiten die Mitarbeiter in Vier-Stunden-Schichten. Eine Nachtschicht dauert neun Stunden.
Wie lange sind Sie eigentlich schon dabei, Björn?
Björn: Seit 17 Jahren. Ich bin damals über einen MZ-Artikel auf die Telefonseelsorge aufmerksam geworden – und es macht mir bis heute Spaß. Es gibt aber auch Kollegen, Urgesteine, die sind noch viel länger dabei.
Fröhlich: Unsere treueste Mitarbeiterin ist seit über 40 Jahren im Dienst. Das ist aber nicht die Regel. Besonders Studenten verschlägt es relativ schnell wieder – aber manche kommen auch wieder zurück.
Welches Telefonat hat sich bei Ihnen in 17 Jahren besonders eingebrannt?
Björn: Das waren schon die Gespräche mit Menschen, die sehr konkrete Suizidabsichten haben. Das beschäftigt mich schon – aber wenn es gelingt, den Menschen zumindest für den Moment wieder auf andere Gedanken zu bringen, das ist sehr schön.
Können Sie sich an einen konkreten Fall erinnern?
Björn: Eines Nachts rief eine Frau aus tiefster Not heraus an. Wir haben über eine Stunde telefoniert, ich konnte sie wieder stabilisieren. Sie meinte am Schluss, ich habe sie vor einer riesen Dummheit bewahrt.
Legt man auch mal mit einem schlechten Gefühl auf?
Björn: Natürlich, gerade wenn es um Leben oder Tod geht. Das ist schon ungut, weil ich ja auch nicht weiß, wie es weitergeht.
Gibt es auch Fälle, in denen man erfährt, wie es weitergegangen ist?
Björn: Ja, aber das muss Zufall sein. Ich habe mal mit einer Frau telefoniert, die auf einem Parkplatz stand und sich umbringen wollte. Das Gespräch brach ab. Später habe ich vom Rettungsdienst erfahren, dass sie in ein Krankenhaus gebracht wurde. Sie selbst hat einen Tag später auch noch einmal angerufen. Das beruhigt einen schon.
Wie bewahren Sie Ruhe in solchen Momenten?
Björn: Das muss ich, es überträgt sich auf den Anrufer. Er muss wissen, dass er mir alles erzählen darf. Oft hilft es schon, die dunklen Gedanken auszusprechen.
Wenn Sie wissen, wo sich eine Person befindet, die sich etwas antun möchte, rufen Sie dann die Polizei?
Fröhlich: Das ist eine ganz schwierige Frage. Bei uns steht Anonymität über fast allem. Um die Behörden informieren zu müssen, bräuchten wir ganz konkrete Fakten und das kommt so gut wie nie vor.
Björn: Es kann aber vorkommen, dass wir Anrufer dazu ermutigen, selbst den Notdienst zu rufen. Manche bitten auch darum, dass wir den Sanka anrufen.
Gibt es bei der Telefonseelsorge auch lustige Momente?
Björn: Klar. Auch das sind prägende Momente. Menschen rufen aus einer tiefen Depression heraus an und lachen am Ende – zumindest ein bisschen.
In diesem Interview wurden die Themen Depression und Suizid behandelt. Sollten Sie selbst das Gefühl haben, dass Sie Hilfe benötigen, kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge. Unter der kostenlosen Rufnummer (0800)1110111 oder (0800)1110222 erhalten Sie Hilfe von Beratern, die Ihnen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen können. Weitere Hilfsangebote gibt es beim Krisendienst Bayern unter der Telefonnummer (0800)6553000 sowie der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention.
Neue Ausbildungskurse im Herbst
Start: Der neue Ausbildungskurs der Telefonseelsorge beginnt am letzten Freitag und Samstag im September (27. und 28.09.) Von da an treffen sich die Teilnehmer an jeden Mittwochabend (außer in den Ferien) bis zum Mai 2025. Dabei lernen sie alles, was man bei den Gesprächen braucht.
Anforderungen: Wer mitmachen möchte, sollte aufgeschlossen, kontaktfreudig, offen für Veränderungen, belastbar, flexibel und abgrenzungsfähig sein. Die Mitarbeiter der Telefonseelsorge arbeiten ehrenamtlich und können ihre Arbeitszeit daher selbstverantwortlich bestimmen.
Anmeldung: Interessenten können sich an Josef Stautner und Michaela Fröhlich wenden. Sie sind hauptamtlich bei der Telefonseelsorge Ostbayern-Regensburg tätig und erreichbar per Mail über info@telefonseelsorge-ostbayern.de und per Telefon über die (0941)5021168.
Zu den Kommentaren