Vermisstenfälle in Bayern
Spurlos verschwunden: Was ist Anna Poddighe, Chettana Taprap und Helmut Strigl zugestoßen?

11.07.2024 | Stand 11.07.2024, 20:05 Uhr |

Daniela Poddighe zeigt ein Bild ihrer 2012 verschwundenen Schwester Anna. Nicht zu wissen, was mit der damals 41-Jährigen geschehen ist, hat sie rast- und ruhelos gemacht. Foto: Archiv/Schönberger

In Bayern werden derzeit etwa 1500 Menschen vermisst. Viele Fälle klären sich rasch auf. Drei Prozent sind länger als ein Jahr vermisst, in etwa einem Prozent der Fälle geht die Polizei von einem Gewaltverbrechen aus. Manchmal bleibt das Schicksal für immer ungeklärt.



Zwölf Jahre. 4400 Tage. Irgendwann hat Daniela Poddighe aufgehört zu zählen. Und sie hat aufgehört zu hoffen. Ihre Schwester Anna ist tot. Das spürt die gebürtige Italienerin. Und sie ist sicher, dass ein guter Bekannter dafür die Verantwortung trägt. Doch Beweise hat sie nicht. Die Polizei kann das Schicksal ihrer Schwester, die am 17. Juni 2012 in Amberg verschwunden ist, nicht klären. 4400 Tage und kein Lebenszeichen. Nicht zu wissen, was passiert ist, das sei die Hölle, sagt Daniela Poddighe. Angst und Trauer haben sie rast- und ruhelos gemacht.

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Etwa 1500 Vermisstenfälle zählt die Polizei allein in Bayern, rund 10.000 Menschen sind es bundesweit. 200 bis 300 Personen verschwinden täglich aus ihrem gewohnten Lebensumfeld, sagt das Bundeskriminalamt. Teenager nach einem Streit in der Familie, verwirrte Senioren aus Pflegeheimen. Aber auch Menschen, die einen Suizid planen. Die Hälfte der Fälle klärt sich binnen Stunden oder Tagen. Mehr als 80 Prozent der Vermissten sind nach einem Monat gefunden. Etwa drei Prozent der Fälle bleiben länger als ein Jahr ungelöst. Die Statistik besagt auch, dass etwa ein Prozent der Vermissten einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen sind. Auch die Ermittler in Amberg gehen davon aus, dass Anna Poddighe nicht freiwillig verschwand. Doch alle Ermittlungen sind im Sande verlaufen. „Momentan haben wir keine neuen Ansätze mehr“, bedauert Kriminalhauptkommissar Thomas Emerich von der Kripo Amberg. „Aber wir vergessen diese Fälle nicht!“

Prozess zu Mord ohne Leiche



Es gibt eine Reihe von Vermisstenfällen in Bayern, in denen ein Verbrechen sehr wahrscheinlich erscheint. In Nürnberg verhandelt das Landgericht derzeit die mutmaßliche Ermordung einer 38-jährigen Frau, die kurz vor Weihnachten 2022 hochschwanger verschwand. Vor Gericht stehen ihr ehemaliger Lebensgefährte und ein Geschäftspartner. Das Opfer wurde bislang nicht gefunden. In Regensburg wird das Verschwinden von Kerstin Langley (39) im Jahr 2007 als mögliches Tötungsdelikt eingestuft. Ermittlungen gegen den Ex-Lebensgefährten ergaben aber keinen konkreten Tatverdacht. Auch die Umstände zum Verschwinden der 62-jährigen Brigitte Neumayr 2007 in Regensburg gelten als verdächtig. Insgesamt stehen acht Menschen aus der Oberpfalz in der seit 1992 geführten Datei für Vermisste, Unbekannte Tote und unbekannte Hilflose. Darunter ein damals zwölfjähriges Mädchen aus Amberg. Im Fall von Thi Chung Nguyen geht die Polizei davon aus, dass sie 2018 gezielt aus ihrem Lebensumfeld verschwand.

Aufgrund der sehr unterschiedlichen Umstände der Vermisstenfälle bringe es nichts, pauschale Hilfsangebote zu machen, heißt es bei ANUAS. Der Verein berät bundesweit Angehörige und vermittelt Kontakte. Etwa zu Privatdetektiven oder zum Fallanalytiker Axel Petermann, wenn die Umstände für eine Gewalttat sprechen. Dr. Christian Baumgartner, Vorsitzender des Weißen Ring in Passau, sagt: „Manchmal reicht es schon, ein offenes Ohr zu haben und Hilfen aufzuzeigen.“ Beim Weißen Ring werden Opfer von Gewalttaten und deren Angehörige betreut. Neben fachlicher Unterstützung gibt es auch finanzielle Hilfen. Dann, wenn klar ist, dass die Vermissten nicht freiwillig gegangen sind.

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In Ingolstadt wird seit Juni 2012 Chettana Taprap vermisst – damals 31 Jahre alt und Mutter zweier Töchter im Kindergartenalter. Die gebürtige Thailänderin soll mit ihrem getrennt lebenden Mann und den Kindern Urlaub auf der kroatischen Insel Rab gemacht haben – unterbrochen von einer Autopanne im Pongau. Doch an beiden Orten tauchte nur der Vater mit den Kindern auf. Auf Nachfrage teilte er mit, dass seine Frau krank im Auto liege. „Das Ganze war mehr als merkwürdig“, befand Herbert Hanetseder, damals Chefinspektor beim LKA Salzburg und Ermittlungsleiter, gegenüber dem Donaukurier. Die Beweise gegen den 34-Jährigen reichten nicht aus. Der Mann wurde wieder auf freien Fuß gesetzt.

In Niederbayern fahndet die Polizei derzeit nach einem Teenager. Der 13-Jährige wird seit gut zwei Wochen aus einem Kinderheim in Büchlberg vermisst. Er sei schon häufiger verschwunden, aber immer wieder zurückgekehrt, sagt die Polizei. Nun gibt es Hinweise, dass er sich in Rumänien aufhalten könnte. Eine Mitte Juni aus Neureichenau verschwundene 16-Jährige wurde in Wien aufgegriffen. In vier weiteren Fällen in Niederbayern datieren die Vermisstenanzeigen auf die Jahre 2022 und 2023. Eine Frau ist seit einer Wanderung auf dem Rachel vermisst, zu den drei abgängigen Männern gibt es keine Erkenntnisse zum Verbleib.

Ältester Fall von 1962



Aktuell sind laut Landeskriminalamt in Bayern 1312 Vermisstenfälle registriert, die länger als vier Wochen zurückliegen. Darunter auch der älteste Fall aus dem Jahr 1962. Um wen es sich dabei handelt, teilte das LKA nicht mit. In der Oberpfalz ist die 12-jährige Monika Frischholz aus Flossenbürg seit 1976 vermisst. Die Polizei ist sicher, dass die Schülerin ermordet wurde. Auch Sonja Engelbrecht (19) aus München wurde 25 Jahre als Vermisstenfall geführt. 2020 konnte ihr ein in Kipfenberg gefundener Oberschenkelknochen zugeordnet werden. Was ihr zugestoßen ist, ist bis heute nicht geklärt. Gibt es keine Erkenntnisse zum Verbleib, können Vermisste frühestens nach 10 Jahren für tot erklärt werden.

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Immer wieder behandelt auch die ZDF-Sendung „Aktenzeichen xy ungelöst“ solche Schicksal. Den wohl spektakulärsten Auftritt lieferte dort einst der Verlobte der zu diesem Zeitpunkt vermissten Maria Baumer aus der Oberpfalz. Nach dem Fund ihrer sterblichen Überreste wurde er acht Jahre später wegen Mordes verurteilt. In der Sendung vergangene Woche wurde um Hinweise zu einem seit 2018 vermissten Lehrer aus Rennertshofen gebeten. Die Ingolstädter Polizei geht davon aus, dass auch Helmut Strigl einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Rund 30 neue Hinweise gingen nach der Ausstrahlung ein, eine heiße Spur ist laut Polizei nicht dabei. Nach dem Verschwinden des Mannes waren dessen Pensionszahlungen jahrelang mittels gefälschter Unterschriften auf andere Konten transferiert worden. Die Polizei hat Personen im Visier, ein konkreter Tatverdacht besteht nicht – auch, weil das Opfer noch nicht gefunden wurde.

Hören Sie hier den Podcast zum Fall Anna Poddighe

Auch in Amberg schildert Ermittler Emerich die Besonderheiten, eines Falls ohne Leiche. „Das ist wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen.“ Ohne Opfer wird die Beweisführung gegen Tatverdächtige sehr schwer. „Wir haben wirklich alles probiert“, sagt der Kripo-Chef. Hundertschaften durchkämmten Wälder und Badeseen nach Anna Poddighe. Eine Prämie für Hinweise wurde ausgelobt. Der Fall wurde bei Aktenzeichen xy vorgestellt. Der entscheidende Hinweis blieb dennoch aus. Daniela Poddighe muss lernen, mit der Ungewissheit zu leben.

Das sagen die Polizeipräsidien:



Niederbayern: Von Januar bis Juni 2024 wurden im Präsidiumsbereich 555 Vermisstenfälle gemeldet. 47 sind ungeklärt. 2023 blieben 62 Fälle ungeklärt. In den Zahlen finden sich laut Sprecher Günther Tomaschko auch Personen aus Asylverfahren. Vier Vermisste werden in der Datenbank des LKA geführt.

Oberbayern-Süd: 2023 gab es 1569 Vermisste. Gelegentlich komme es vor, dass vermisste Personen nach Jahren in Flüssen oder im alpinen Gelände gefunden werden, so ein Sprecher. In der Vermissten-Datenbank sind derzeit vier Fälle.

Oberbayern-Nord: Im Jahr 2023 wurden 1534 Fälle bearbeitet. 173 Personen gelten als langzeitvermisst. In drei Fällen wird wegen eines mutmaßlichen Tötungsdeliktes ermittelt.

Oberpfalz: Im vergangenen Jahr wurden 1186 Vermisstenfälle bearbeitet. 59 Personen sind derzeit länger als vier Wochen vermisst.

ig