Landshuterin im Interview
Olympia-Attentat 1972: „Sie wussten nicht, was sie machen sollten“

07.09.2022 | Stand 22.09.2023, 5:56 Uhr

Die Landshuterin Inge Pauly, geboren 1941, erlebte als Fernschreiberin die Olympischen Spiele 1972 in München mit. −Foto: V. Bayer

Von Veronika Bayer

Inge Pauly (80) aus Landshut war bei den Olympischen Spielen 1972 in München im Pressezentrum auf dem Olympiagelände tätig. Als eine der ersten erfuhr sie die schrecklichen Nachrichten des Olympia-Attentats am 5. September und telegrafierte sie in alle Welt.



Frau Pauly, Sie waren 1972 in München, hatten beruflich auf dem Olympiagelände zu tun. Was genau haben Sie gemacht?
Inge Pauly: Ich war damals Fernschreiberin in Landshut. Da kam man auf mich und eine Kollegin zu. Das Fernamt München hat Telegrafistinnen gesucht. Die hatten nicht so viele für die Olympiade. Auch aus Passau, Cham und Regensburg waren welche da. Am Schluss müssen wir um die hundert Frauen gewesen sein, die im Pressezentrum in München auf dem Olympiapark als Fernmelderinnen (der Deutschen Bundespost) gearbeitet haben. Das Pressezentrum, das war eigentlich der Mittelpunkt von allem. Da waren immer so viele Leute da.

Haben Sie auch Wettkämpfe gesehen?
Pauly: Wenn ich frei hatte, konnte ich an allen Veranstaltungen kostenlos teilnehmen. Wir hatten solche Schilder, mit denen wir uns auf dem Gelände frei bewegen konnten. Ich war auch bei der Eröffnungs- und die Schlussveranstaltung dabei und wir konnten mit dem Bus auf dem Gelände herumfahren. Vier Wochen vor Beginn waren wir schon abgeordnet, um eingewiesen zu werden.

Eingewiesen?
Pauly: Das Verhalten mit Presseleuten zum Beispiel: Die haben die Telegramme für ihre Heimatländer dann zu uns gebracht. Wir haben sie übermittelt. So um die 200, 300 Presseleute werden schon da gewesen sein. Niemand hat damit gerechnet, dass was passiert.

Aber es ist passiert.
Pauly: Es hatte vorher geheißen: ‚Die friedlichsten und heiteren Spiele.‘ Und dann sind es die blutigsten geworden.

Erinnern Sie sich an den Tag?
Pauly: Ich hatte Frühdienst. Mit mir waren 20 Frauen da, schon im Pressezentrum anwesend. Da kommt ein Anruf rein, um 7.15 Uhr. Mein Mann war das, er sagt: Bei euch ist ja was Schreckliches passiert. Da bin ich zur Aufsicht gegangen, habe gesagt, dass was Schreckliches passiert ist. Dass die Israelis als Geiseln festgehalten werden. Im Olympiadorf. Die Terroristen hatten das ganze Haus gekidnappt.

Ihr Mann hat es so früh gewusst? Was tat er beruflich?
Pauly: Er hat das Klinikum Landshut als Architekt mitgebaut und er war bei der Regierung von Niederbayern. So, wie mein Mann das gehört hat, so müssen es die Reporter auch gehört haben. Kurz nach seinem Anruf sind sie angestürmt gekommen, um die Nachricht in ihre Heimatländer zu übermitteln. Die Fernschreiber sind gelaufen bis Mittag. Alle waren in großer Panik. Um 13 Uhr bin ich dann nach Hause gegangen.

Haben Sie auf dem Gelände, das Sie überquerten, etwas wahrgenommen?
Pauly: Die Polizei hat das Haus weitläufig abgesperrt, aber die Terroristen sind am Balkon gestanden und haben runter gesehen. Alles war bombenvoll mit Leuten. Alle, die es erfahren haben, sind dahingelaufen, wollten an das Haus. Das Pressezentrum war im Zentrum. Ich stand draußen im Olympiapark, da habe ich die Leute gesehen, die draußen am Balkon herumgelaufen sind. Unter vielen bin ich da gestanden in der Masse, aber ich bin dann heim. Die Stimmung in der Menge ist voller Angst gewesen: Was wird jetzt werden? Keiner hat eigentlich gewusst: Wie geht es jetzt weiter. Ich glaube, es war auch ruhig. Es hat sich keiner getraut, da herum zu schreien.

Sie konnten einfach gehen?
Pauly: Ja, ich war außerhalb des Olympiageländes in einem Motel untergebracht, nähe Max-Weber-Platz. Mich hat niemand aufgehalten, mit dem Ausweis konnte man jederzeit rein. Später hat man festgestellt, wie die reingekommen sind: In den frühen Morgenstunden ist ein halbes Dutzend Terroristen mit Waffen über den Zaun geklettert. Sie sind dabei sogar gesehen worden, aber die Aufpasser haben gedacht, es seien Sportler, die nach dem Feiern spät zurückkommen. Da ist alles schiefgelaufen – sowas gab es vorher bei Olympischen Spielen nicht.

Und dann?
Pauly: Die Nachricht ging nach Israel und Israel hat einen Antrag gestellt, dass sie sofort kommen und ihre Leute befreien wollen. Das war damals ganz schlimm: Die Verantwortlichen hier haben gesagt, das findet auf bayerischem Boden statt, da müssen wir befreien. Sie haben es Israel nicht gestattet. Die Gangster haben den Antrag gestellt, nach Fürstenfeldbruck zu wollen und sie sind dahingeflogen worden. Das ging alles sehr schnell.

Wie ging es Ihnen und Ihren Kolleginnen in der Zeit?
Pauly: Wir waren fixiert auf den Beruf. Und schockiert, als wir hörten, dass die Befreiung fehlgeschlagen ist. Das ist jetzt 50 Jahre her. Aber das war doch ein Einschnitt in meinem Leben. Ich weiß noch, als dann mein Mann kam: Er durfte nicht rein. Aber untereinander haben wir das für unsere Angehörigen gemacht: Die Ausweise übergeben, damit sie rein konnten.

Und Ihr Eindruck von Verantwortlichen damals vor Ort?
Pauly: Die waren alle hilflos. Mir schien, sie wussten nicht, was sie machen sollten, waren überfordert. Die ganze Welt war ja da, sie konnten nicht einfach sagen: Jetzt fahrt wieder heim. Niemand hat damit gerechnet. Aber es war auch schlimm, dass die Spiele weitergelaufen sind. Bis zuletzt waren wir ja da. Ich bin mit drin gesessen bei der Schlusskundgebung im Olympiastadium. Jeder hat beim Eintreten einen Lichtstab bekommen, damit sollten wir den Sportlern leuchten. Bis zuletzt habe ich es leuchten lassen.