Selfie-Wahn
Krank durch Instagram & Co.?

06.12.2019 | Stand 03.08.2023, 2:29 Uhr
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Essstörungen bei jungen Frauen nehmen zu – Stress durch Medien und Influencer.

DEGGENDORF Sie gilt als die tödlichste psychische Krankheit und ist die am weitesten verbreitete Essstörung: Magersucht. Aktuelle Daten der KKH Kaufmännische Krankenkasse zeigen, dass ärztlich diagnostizierte Essstörungen wie Anorexie, Bulimie und Binge-Eating weiter zunehmen. Laut Auswertung sind vor allem Frauen betroffen – bei den 18- bis 29-Jährigen ist deren Anteil mit rund 88 Prozent am höchsten. „Essstörungen beginnen oft in der Pubertät oder im frühen Erwachsenenalter und damit in einer besonders sensiblen Lebensphase“, sagt KKH-Psychologin Franziska Klemm. Der Analyse zufolge ist die Zahl der betroffenen Frauen bei den Zwölf- bis 17-Jährigen zwischen 2008 und 2018 um 22 Prozent gestiegen, bei den 18- bis 24-Jährigen um gut elf Prozent. Mittlerweile leiden 17 von 1.000 Frauen im Alter von zwölf bis 17 Jahren an einer diagnostizierten Essstörung, bei den 18- bis 29-Jährigen sind es sogar 20 von 1.000.

Das Dramatische: Die Dunkelziffer ist hoch, und unbehandelt können Essstörungen tödlich enden. 2017 starben laut Statistischem Bundesamt 78 Menschen in Deutschland aufgrund von Essstörungen. Das ist ein Drittel mehr als im Jahr zuvor. Doch was treibt vor allem immer mehr junge Frauen in die Magersucht? Hinter Essstörungen verbergen sich meist tiefer liegende seelische Probleme. Die Gründe dafür sind vielfältig und reichen von traumatischen Erlebnissen wie Missbrauch über familiäre Konflikte bis hin zu Leistungsdruck und Mobbing. Eine immer größere Rolle spielen auch Stars in sozialen Medien wie Instagram, Youtube & Co.: Der Boom vermeintlich perfekter Selfies zeichnet ein unerreichbares und gefährliches Körperideal. „Solche Vorbilder können Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben und auch dem eigenen Körper forcieren. Sie erzeugen einen starken Druck, dem propagierten Körperbild zu entsprechen. Das kann die Entwicklung eines gestörten Essverhaltens begünstigen“, sagt Franziska Klemm. Dass dieser gesellschaftliche Druck bereits Jugendlichen zu schaffen macht, zeigt eine Forsa-Umfrage im Auftrag der KKH: Demnach fühlt sich jeder sechste 13- bis 18-jährige Schüler sehr häufig bis häufig von Medien, Idolen und Influencern unter Druck gesetzt.

Haben Betroffene erst einmal eine Essstörung entwickelt, ist es mit einfachen Ratschlägen nicht getan. Denn Bulimie und Magersucht sind schwere psychische Erkrankungen, die häufig mit Angststörungen, Depressionen, selbstverletzendem Verhalten oder Suchterkrankungen einhergehen. „Den Betroffenen fällt es oft schwer sich einzugestehen, dass sie Hilfe benötigen. Dies ist aber ein ganz wichtiger Schritt für die Genesung“, betont die KKH-Expertin. Oft fällt es leichter, sich gegenüber anderen Menschen mit ähnlichen Erfahrungen zu öffnen. Deshalb hat die KKH zusammen mit zahlreichen Partnern den Blog InCogito initiiert, in dem 16- bis 24-Jährige über Essstörungen und alles andere, was sie beschäftigt, schreiben können – ehrlich und ohne Weichzeichner. Unterstützt von Experten wollen die jungen Redakteure mit ihren Beiträgen zur positiven Diskussion anregen und Mut machen, über Probleme zu sprechen. Die Blog-Besucher können das Redaktionsteam kontaktieren und die Inhalte in sozialen Medien kommentieren. Zusätzlich gibt InCogito eine Übersicht über Unterstützungsangebote und bietet direkten Zugang zu einer Beratung von Betroffenen für Betroffene. „Für uns ist es ein Blog, der die analoge Unterstützung in der Schule mit der digitalen Welt der Jugendlichen verbindet und eine Brücke zwischen Prävention, Selbsthilfe und Beratungsangeboten schafft“, erläutert Franziska Klemm. Der Blog ist als eine Ergänzung zum Schulprojekt MaiStep gedacht. Weitere Informationen unter www.kkh.de/incogito.

Schulprogramm MaiStep zur Vermeidung von Essstörungen

MaiStep – ein Projekt der Universitätsmedizin Mainz, unterstützt von der KKH – richtet sich an Schülerinnen und Schüler der 7. und 8. Klasse. Ziel ist es, ein gestärktes Körperbewusstsein zu vermitteln, um der Entwicklung von Essstörungen frühzeitig entgegenzuwirken. Seit 2012 wurden rund 19.300 Schüler erreicht und rund 1.700 Lehrer geschult. Mit Hilfe von MaiStep konnten bislang 4,3 Millionen Euro an Gesundheitskosten eingespart werden, denn rund 300 Euro Programm-Kosten pro Schüler stehen rund 21.900 Euro Kosten pro Krankheitsfall gegenüber. Weitere Informationen unter www.kkh.de/maistep.

Experten unterscheiden drei Hauptformen von Essstörungen:

die Magersucht (Anorexia nervosa), bei der Menschen bis hin zu einem lebensbedrohlichen Untergewicht hungern ‒ getrieben von der Angst vor einem zu dicken Körper,

die Ess-Brech-Sucht (Bulimia nervosa), bei der Betroffene einen starken Zwang verspüren, ihr Körpergewicht zu kontrollieren und nach Essattacken erbrechen oder Abführmittel missbrauchen, um nicht zuzunehmen,

die Binge-Eating-Störung, die mit wiederkehrenden, unkontrollierbaren Essattacken einhergeht und zu starkem Übergewicht oder gar Adipositas führt.

Angehörige und Freunde sollten bei Verdacht auf typische Symptome achten: auf eine allgemein gereizte oder gedrückte Stimmung, sozialen Rückzug und Gewichtsveränderungen sowie auf auffälliges Essverhalten (u. a. Diät als Dauerzustand, eingeschränkte Nahrungsauswahl, Verzehr großer Mengen), Erbrechen, Einnahme von Abführmitteln, exzessiven Sport. Alarmzeichen sind auch, wenn Kinder und Jugendliche unverhältnismäßig viel Aufwand für das eigene Aussehen betreiben, geliebte Hobbys plötzlich aufgeben und sich nur noch mit Selfies in Szene setzen.

Deggendorf