„Ambulanz für psychische Gesundheit“
Der Umgang mit dem „ganz normalen Wahnsinn“

13.04.2018 | Stand 20.07.2023, 12:13 Uhr
−Foto: Foto: Bezirk Niederbayern

Anfang Mai eröffnet die erste „Ambulanz für psychische Gesundheit“ in Grafenau.

GRAFENAU Das ist doch nicht „normal“. Dieser Gedanke drängt sich bei den verschiedensten aktuellen Themen auf, speziell auch im Bereich psychischer Erkrankungen. Studien von Krankenkassen belegen steigende Fallzahlen bei Erwachsenen und ganz drastisch bei Kindern und Jugendlichen. Im Landkreis Freyung-Grafenau kommt erschwerend hinzu, dass es für schwer psychisch und chronisch erkrankte Menschen ein entsprechendes Angebot noch gar nicht gibt. Der Bezirk Niederbayern hat das Problem erkannt und eröffnet nun die erste „Ambulanz für psychische Gesundheit“ am Krankenhaus in Grafenau – ein erster Schritt hin zu einer besseren Versorgung, dem weitere folgen werden. Ein Gespräch vor Ort zeigt, wie sehr Verantwortliche und Betroffene gleichermaßen diese Außenstelle des Bezirksklinikums Mainkofen herbeisehnen.

Nach vielen Monaten Vorarbeit ist es am 2. Mai nun soweit: Die „Ambulanz für psychische Gesundheit“ in Grafenau nimmt ihren Betrieb auf, die offizielle Einweihung findet am 4. Mai statt. Die Ambulanz kommt wie eine „normale“ Arztpraxis daher und ist in einem Nebengebäude des Klinikums Grafenau (Ulrichstraße 9) untergebracht. Sie verfügt über ein multiprofessionelles Team aus Fachärzten für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychologischen Psychotherapeuten, Fachpflegekräften für Psychiatrie, Sozialpädagogen und medizinischen Fachangestellten.

„Die Lage ist sehr gut, denn damit ist die Hemmschwelle geringer“, erklärt Josef Bauer. Aus Sicht des geschäftsführenden Vorsitzenden des Kreis-Caritasverbandes Freyung-Grafenau sei zwar die Psychiatrie längst nicht mehr so stigmatisiert wie früher, doch mancher Patient schäme sich dennoch, wenn er Hilfe sucht, vor allem beim ersten Mal. Das Außenstellen-Konzept des Bezirks findet er „hochspannend“ und prophezeit, dass das neue Angebot sehr gut angenommen und auch den stationären Bereich in Mainkofen langfristig entlasten werde.

Bedarf in der Region ist groß

Ursprünglich war man so auch auf den Gedanken gekommen. Denn als 2016 in Mainkofen aus statischen Gründen kurzfristig 40 Betten ausgelagert werden mussten und die Station für eineinhalb Jahre am Krankenhaus Freyung betrieben wurde, merkte man durch die hohe Auslastung erst, wie groß der Bedarf in der Region tatsächlich ist.

„Die Station in Freyung war ideal, eine deutliche Erleichterung für uns“, erinnert sich Kurt Obermeier, Caritas-Fachgebietsleiter für den Betreuungsverein und das Betreute Wohnen. Es gab zügig Termine, einen engen Austausch mit Therapeuten und Ärzten und damit kurze Wege zum Wohle der Patienten. Dass die Wege durch den neuen Standort in Grafenau nun, im Vergleich zur Fahrt nach Mainkofen, ebenso kürzer werden, findet auch Rudi (Name geändert) toll. Kurt Obermeier ist seit zehn Jahren der amtliche Betreuer des heute 31-Jährigen. Alle acht Wochen fahren er oder Melanie Fries vom Betreuten Einzelwohnen für psychisch Kranke den Schützling bisher zur Therapiesitzung nach Mainkofen. „Da bleibt viel Zeit auf der Strecke. Zeit, die wir anderweitig mit ihm viel besser nutzen könnten.“

Kurze Wege für Betroffene eine Erleichterung

Melanie Fries ist eine Art Alltagshelferin für Rudi, dreimal wöchentlich sucht sie ihn zuhause auf, hilft ihm beim Einkaufen und der Haushaltsführung. Kurt Obermeier, sein amtlicher Betreuer, zahlt Rudi in kleinen Raten seine Rente aus, damit dieser das Haushalten lernt und steht ihm auch sonst bei vielen kleinen und großen Problemen zur Seite. „Es ist wie ein Vater-Sohn-Verhältnis“, sagt Kurt Obermeier. Dagegen hatte sich Rudi anfangs aber gewehrt, hinter ihm lag eine turbulente Zeit: Schon als Baby kam er in ein Kinderheim, da seine leibliche Mutter drogenabhängig war. Sein Wunsch nach einer eigenen Familie erfüllte sich zwar als er zwölf wurde, aber „die hatten’s nicht leicht mit mir, obwohl sie sich wirklich sehr um mich bemüht haben“, gibt Rudi heute zu. Mit 18 schließlich versuchte er sein Glück allein, geriet aber schnell auf die schiefe Bahn, falsche Freunde, eine Infizierung mit HIV, eine hohe Verschuldung… „Ich wäre wohl im Gefängnis gelandet, hätte ich nicht Kurt kennengelernt.“ Seitdem hat Rudi immer wieder Krisen, muss bisweilen auch stationär behandelt werden, dennoch habe er schon einiges gelernt, meint er stolz. „Aber es gibt auch Tage, an denen ich denke, ich mag nimmer.“ Dann muss es schnell gehen – und genau das ist das Problem. Schnell geht es angesichts der langen Wartezeiten meist nicht. „Ich hoffe, dass man in Grafenau häufiger als in Mainkofen einen Notfalltermin bekommen kann.“ So könne nämlich laut Kurt Obermeier oft eine schlimmere Entwicklung mit einem stationären Aufenthalt abgewendet werden.

Auch wenn Rudi sicher kein Einzelfall ist – seine Lebensgeschichte und die Gründe, warum er persönlich ein Leben lang auf ein umfassendes Hilfesystem angewiesen sein wird, sind dennoch nicht die Regel. Woran liegt es dann also, dass so viele andere, die weit weniger extreme Schicksale haben, also vermeintlich „normaler“ sind, psychisch erkranken?

Caritas-Chef Josef Bauer wagt einen Erklärungsversuch. Bei den Erwachsenen habe es viel mit „unserem Verständnis für Arbeit“ zu tun. Perfektionismus im Job, ständige Erreichbarkeit statt klassischer Feierabend wie früher, das Streben nach möglichst großem Wohlstand, Freizeitstress am Wochenende statt erholsamem Runterkommen. „Das Level, wie viel Stress jemand erträgt, ist dabei individuell ganz unterschiedlich.“ Ein Stichwort ist „Resilienz“, also die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen. „Es gibt verschiedene Wege, um mit sich selbst im Reinen zu sein: Religion, Sport, Yoga. Andere finden Ausgeglichenheit durch Arbeit beim Autoputzen oder im Garten. Jeder muss für sich selbst einen Weg finden“, sagt Bauer.

Strukturen, die Halt geben, verschwinden

Eine Therapie, die früh ansetzt, könne dabei enorm hilfreich sein. Auch eine „Struktur“ im Alltag sei wichtig. „Früher war nach der Arbeit Schluss mit Leistung, heute durchdringt es bei vielen den gesamten Tag – und Strukturen, die Halt geben, verschwinden dabei.“ Wer sich jedoch stets als Getriebener fühle, der irgendwann überfordert ist von den Ansprüchen, die er selbst an sich stellt, der erkenne die Anzeichen oft zu spät. „Das kann sich in der Psyche äußern durch Sucht und innere Unruhe, aber auch körperliche Folgen von Schlaflosigkeit bis hin zu einem Herzinfarkt haben.“ Die Symptome durchziehen dabei alle Schichten der Gesellschaft.

Das Hilfesystem für Erwachsene sei zwar verbesserungsfähig, doch weit mehr Sorge haben Josef Bauer und seine Kollegen, was die Kinder und Jugendlichen angeht. „Was wir in München vor 10 Jahren hatten, ist nun bei uns angekommen“, sagt Bauer knapp und meint damit, dass eine zunehmende Zahl von Kindern schon im Kindergartenalter so auffällig ist, dass sie – weil nicht gruppenfähig – anderweitig betreut werden muss. Die Caritas überlegt deshalb, einen heilpädagogischen Kindergarten einzurichten. „Recht deutlich zeigt sich die Situation bei unserer Frühförderung, die ursprünglich für behinderte Kinder oder Kinder, die von einer Behinderung bedroht sind, eingerichtet wurde. Von den 3500 Kindergartenkindern im Landkreis waren 2017 insgesamt 450 in der Frühförderung.“ Und Bauer ist sich sicher: „Die Probleme werden in den nächsten Jahren nicht weniger werden. Im Gegenteil.“

Die Eingangsfrage, ob diese Entwicklungen noch „normal“ sind, stellt sich nicht mehr – denn sie sind längst Realität und angesichts der Zahlen auch zunehmende Normalität. Der Caritas-Vorsitzende will nichts dramatisieren, sondern versucht, gelassen zu bleiben. Aber um die Frage „Wo soll das alles hinführen?“ kommt auch er manchmal nicht herum. In den großen Aufgaben mit all ihren vielen Schwierigkeiten versucht er deshalb auch die Möglichkeiten zu sehen: Eine bessere medizinische und therapeutische Versorgung als früher. Mehr betreute Wohnformen, die aus seiner Sicht durch das neue Behindertenteilhabegesetz ermöglicht werden. Vor allem die Außenstelle für psychische Gesundheit für Kinder und Jugendliche, die der Bezirk 2019 in Waldkirchen schaffen wird, sowie die 30 stationären Behandlungsplätze für Kinder und Jugendliche, die im Zuge des Ausbaus des Bezirksklinkums Passau entstehen werden, begrüßt Bauer sehr. Eine Entstigmatisierung psychischer Krankheiten sowie die häufigeren Diagnosen seien gut, um schon frühzeitig gegensteuern zu können.

Bauer: Der Bezirk betreibt „Zukunftssicherung“

„Wenn wir möglichst früh ansetzen wollen, ist eine ambulante Versorgung wie in Grafenau und im nächsten Jahr in Waldkirchen enorm wichtig“, sagt Josef Bauer und nennt es „Zukunftssicherung“, was hier der Bezirk vorantreibt. „Wir erleben auch viele positive Beispiele von Menschen, denen man so gut helfen kann, dass sie nie wieder unsere Unterstützung brauchen.“

Auch Kurt Obermeier hatte in den 28 Jahren, die er schon in Freyung arbeitet, solche Erfolgserlebnisse. Und er weiß auch, wie wichtig zeitnahe, konkrete Hilfestellung ist, um den Betroffenen nachhaltig zu stabilisieren. „Früher wurde vieles nicht erkannt und behandelt, daraus können sich aber Störungen entwickeln, die kaum mehr therapierbar sind.“ Je früher, desto besser ist seine Devise. Ebenso wie: Lieber darüber sprechen, als Deckel drauf.

Rudi nickt heftig bei diesem Satz. Auch ihm tut es „narrisch gut“, wenn er mit jemandem über seine Probleme reden kann. Den Wunsch nach einem unabhängigen Leben indes hat der 31-Jährige aufgegeben. „Ganz allein könnte ich es nicht, das würde nur wieder schiefgehen.“ Eine Therapie als Jugendlicher hatte er übrigens nicht, „man hat wohl gemeint, so schlimm wär’s gar nicht, immerhin hab ich sogar einen Schulabschluss gemacht“. Die Frage, ob er denn sonst einen Wunsch für die Zukunft hat, kann Rudi schnell beantworten: „Es sollte noch mehr Obermeiers geben.“

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