Altenpflegerin vor Gericht
Gab es täglich Schläge für demente Seniorin?

22.10.2019 | Stand 13.09.2023, 0:47 Uhr
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„Niemand hier im Saal möchte im Alter derart behandelt werden“, so Richter Hammerdinger am Ende der Verhandlung

ALTÖTTING. Weil sie einer schwer dementen Seniorin mehrfach Schmerzen zugefügt haben soll, musste sich kürzlich eine selbstständige Altenpflegerin aus dem Landkreis Altötting am Amtsgericht verantworten. Schläge auf Kopf, Gesicht und Brust, rabiates Zerren an den Haaren und das In-den-Mund-Stopfen einer Banane wurden in einem Zeitraum von fünf Tagen im Januar beobachtet und von der Staatsanwaltschaft Traunstein als Misshandlung von Schutzbefohlenen bewertet.

Wer eine Pflegerin im Stile von Kathy Bates in der Verfilmung von Stephen Kings „Misery“ erwartet hatte, wurde überrascht: Auf der Anklagebank nahm eine zierliche, schlicht-elegant gekleidete Frau Platz – sichtlich angespannt und stetig Blickkontakt zu ihrem Ehemann suchend. Die ausgebildete Altenpflegerin, die selbstständig eine mobile Dementen-Betreuung führt, gab an, dass sie seit 2010 auf Basis eines Pflegevertrages mit dem fürsorgeberechtigten Sohn die alte Dame pflegt und betreut. Sie konnte dem Gericht eine beeindruckende berufliche Laufbahn schildern: Die Altenpflegerin hat eine Reihe von Weiterbildungen absolviert und verantwortungsvolle Tätigkeiten wie die Pflegedienst-Leitung in einem Altenheim ausgeübt. Seit 2010 ist sie selbstständig und betreut mit vier Mitarbeiterinnen derzeit etwa ein Dutzend Patienten.

Die schwer demente Burghauserin, beteuerte die Beschuldigte, sei für sie wie eine Mutter und sie selbst gehöre quasi zur Familie. „Nie würde ich ihr wehtun“, betonte sie und schilderte fachlich wortgewandt, wie sie sich um die demente Frau bemühe, indem sie beispielsweise viel Biografie-Arbeit leiste oder Aromatherapie anwende. Während die betreute Rentnerin anfangs noch sehr mobil und rege gewesen war, sei mittlerweile eine Kommunikation mit ihr nur sehr eingeschränkt möglich und sie zeige sich teils sehr abweisend.

„Eindruck von Schlägen auf den Videos täuscht ...“

Bezugnehmend auf die Videos, die der Staatsanwaltschaft vorliegen, erklärte die Beschuldigte: „Ich bin selbst schockiert, wie das wirkt.“ Der Eindruck von Schlägen täusche aber: „Ich arbeite sehr schnell und bin sehr aktiv und temperamentvoll.“ Es habe sich um Maßnahmen gehandelt, die den Wipp-Bewegungen der alten Frau entgegenwirken und so verhindern, dass sie bei der Nahrungsaufnahme verletzt wird.

Den Eindruck der temperamentvollen Pflegerin bestätigte als Zeuge auch der Sohn der Geschädigten: „Sie arbeitet mit Engagement, Temperament und Leidenschaft“, lobte er die Altenpflegerin über die Maßen. Niemals seien ihm blaue Flecken oder andere Spuren von Gewalt an seiner Mutter aufgefallen. Ihren Zustand bezeichnete der Sohn als sehr gut. Er gab an, dass die stark demente Frau nachts sich selbst überlassen ist und trotz Blasenentzündung keine regelmäßige, ärztliche Betreuung stattfindet, was für Verwunderung im Gerichtssaal sorgte.

Das Video, das ihm die Nachbarn gezeigt haben, ist nach Ansicht des Sohnes „harmlos“. Die Vorgänge seien wie im Zeitraffer zu sehen sei, was einen falschen Eindruck vermittle.

Gefilmt wurden die Videos von den Nachbarn der alten Dame. Als Zeugin befragt schilderte die Nachbarin, wie sie am 16. Januar morgens eine schockierende Beobachtung gemacht hat. „Es war noch dunkel und so konnte ich aus unserem Badefenster in das erleuchtete Zimmer unserer Nachbarin sehen. Ich sah, wie sie am Tisch saß und die Pflegerin ihr ins Gesicht schlug und im Vorbeigehen noch eine mitgab.“ Sie habe ihrer eigenen Wahrnehmung misstraut, aber am nächsten Morgen habe sich das Ganze wiederholt. Die Familie beschloss, das Geschehen zu filmen, denn „das glaubt einem ja keiner.“ Nachdem sich keine Änderung abzeichnete, nachdem sie beide Söhne der Geschädigten über ihre Beobachtungen informiert hatten, brachte die Familie die Sache bei der Polizei zur Anzeige. Der Ehemann bestätigte diese Angaben und schloss aus, dass es sich bei den Vorgängen um pflegerisches Vorgehen gehandelt habe: „Das kann man auch als Laie erkennen ...“

Dieser Einschätzung pflichtete auch der Sachverständige bei: „Diese Art von körperlichen Berührungen ist fachlich in keiner Weise nachvollziehbar.“ In den insgesamt 28-minütigen Videos konnte er 14 Situationen identifizieren, die pflegerisch nicht zuzuordnen seien. Obendrein monierte er eine für Demenzkranke viel zu schnelle Nahrungsaufnahme sowie eine nicht angemessene, hektische Arbeitsweise. Die Frage des Richters nach dem Schmerzempfinden Demenzkranker beantwortete er so: „Sie empfinden Schmerzen genau so wie jeder andere, nur ihre Reaktionen darauf können anders sein.“

Zeigten Zeugen Zivilcourage oder begingen sie Straftat?

Die Staatsanwältin forderte eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten und zog sogar ein dreijähriges Berufsverbot in Betracht. Verteidiger Christian Straub, dessen Antrag auf Ablehnung des Sachverständigen wegen Befangenheit ebenso abgewiesen worden war wie der gegen die Vorführung der Videos, forderte hingegen einen Freispruch. Er billigte den Zeugen zwar zu, dass sie ordnungsgemäß handeln wollten, dabei mit den unbefugten Videoaufnahmen aber über das Ziel hinausgeschossen seien.

Richter Hammerdinger lobte die Zeugen allerdings für ihre Zivilcourage. „Die Aufnahmen sprechen eine eindeutige Sprache: 14 Situationen in 28 Minuten wurden als körperliche Gewalt eingestuft - 28 Minuten aus neun Jahren: Da kann man nur spekulieren, was sonst noch war ...“

Er sprach die Altenpflegerin der Körperverletzung in sechs Fällen schuldig und verurteilte sie zu neun Monaten, ausgesetzt auf drei Jahre Bewährung, und 10.000 Euro zugunsten einer gemeinnützigen Einrichtung. Die Angeklagte sei der Situation nicht gerecht geworden, wobei er ein Berufsverbot noch nicht für notwendig erachtet: „Man kann davon ausgehen, dass sie in diesem Verfahren eine Warnfunktion sieht, damit so etwas künftig nicht mehr vorkommt“, mahnte er mit Blick auf die künftigen Patienten des Pflegedienstes. Nachdem im Gerichtssaal auch ein Betreuungsrichter anwesend gewesen sein

Altötting