Bildung
„Wir wollen lernen!“ – Bildungspraktiker diskutieren mit internationalen Experten und Geflüchteten

28.05.2019 | Stand 28.07.2023, 14:59 Uhr
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Wie können in einer immer vielfältiger werdenden Gesellschaft alle Kinder und Jugendlichen auf den für sie am besten passenden Bildungswegen begleitet werden? Dieser Frage widmete sich eine Fachtagung am Beruflichen Schulzentrum 2 in Regensburg. Bildungspraktiker aus der Region stellten verschiedene Ansätze vor, wie minderjährige unbegleitete Flüchtlinge an der Schwelle zum Erwachsenenalter besser in das allgemeine Bildungssystem begleitet werden können. Außerdem widmete sich die Diskussion der Frage, wie Schulen insgesamt einer diverser werdenden Schülerschaft besser gerecht werden können.

REGENSBURG Deutschland wird zunehmend zu einer von Migration geprägten Gesellschaft. Das gilt besonders für die junge Generation. Arbeitsmigration innerhalb Europas, Fluchtbewegungen und weltweite Migration hochqualifizierter Experten führen dazu, dass Schulen eine immer diversere Schülerschaft für ein erfolgreiches Leben in Deutschland und Europa vorbereiten müssen. Dies erfordert ein Nachdenken über eine Anpassung der Schulentwicklung und der Kompetenzen der Lehrenden. Ebenso notwendig ist eine stärkere Einbindung der Schulen in ihre Stadtteile und engere Kontakte zu Betrieben und der Zivilgesellschaft. Eine besondere Gruppe stellen junge Geflüchtete dar. Insbesondere unbegleitete Minderjährige sind dazu herausgefordert, in kurzer Zeit den Schritt in das äußerst anspruchsvolle Qualifizierungs- und Beschäftigungssystem in Deutschland zu schaffen.

Die von circa 70 Expertinnen und Experten unerwartet stark besuchte Fachtagung fand im Rahmen des von der Stadt Regensburg als assoziiertem Partner unterstütze Erasmus+, Leitaktion 3 (Europäisches Programm zur Weiterentwicklung der Zusammenarbeit in der Bildung) Projekt „Cisotra“ Civil Society for the transition of unaccompanied minors into the adult system“ (Begleitung unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter in das Erwachsenensystem) statt. Es hat die Aufgabe, gute Praktiken der Förderung des Übergangs international verfügbar zu machen und neue Ansätze für die weitere Ausgestaltung der Politik auf europäischer Ebene darzustellen. Internationale Experten aus Slowenien, der Türkei, Nord-Mazedonien, Griechenland und Spanien machten sich auf der Tagung mit dem System des Übergangs in Deutschland vertraut. Die Tagung wurde vom deutschen Partner-Institut für sozialwissenschaftliche Beratung GmbH organisiert.

In ihrer Einleitung betonte Maria Köberl-Nowotny, Schulleiterin des Beruflichen Schulzentrums Georg Kerschensteiner 2 die Bedeutung des Themas und lenkte den Blick insbesondere auf die Rolle der Berufsschulen. Sie überbrücken den häufig beklagten Bruch zwischen dem hohen Betreuungsgrad der minderjährigen Geflüchteten und den steigenden Anforderungen an die jungen Erwachsenen. Sie hob insbesondere die Rolle der Schulsozialarbeit, insbesondere der vom Amt für Jugend und Familie getragenen Beratungsstelle „PUR“ der Stadt Regensburg hervor, die eine hervorragende Arbeit bei der Stabilisierung und Orientierung der Jugendlichen leiste.

Alexander Krauß, Geschäftsführer der Isob GmbH und deutscher Partner im Projekt, hob in seiner Zusammenfassung der ersten Ergebnisse des Projektes, das von 2018 bis 2020 läuft, die Notwendigkeit einer engen Koordinierung aller Unterstützungsschritte hervor. Zwar biete gerade das deutsche duale System auch für Geflüchtete beste Chancen, jedoch dürften die Anpassungsschwierigkeiten nicht unterschätzt werden. Notwendig sei ein Gesamtplan der Integration, die erst dann abgeschlossen sei, wenn die Jugendlichen „angekommen“, das heißt in den Betrieben geschätzte Kolleginnen und Kollegen und auch Teil des „normalen“ gesellschaftlichen Lebens geworden seien.

Karin Märkl, Leiterin der Abteilung 6 (Berufsvorbereitung, Jugendliche ohne Ausbildungsplatz am BSZ), stellte das Konzept der Berufsintegrationsklassen vor, das ihrer Einschätzung nach ein Erfolgsmodell der Unterstützung junger Geflüchteter sei. Bereits jetzt gelinge bei fast der Hälfte aller Schüler ein mehr oder weniger reibungsloser Übergang in Ausbildung und Beruf. Sie hob die Bedeutung zusätzlicher Unterstützung der Schüler durch Freiwillige, Initiativen und freie Träger hervor.

Ein Beispiel einer Gesamtkonzeption der Integration von Geflüchteten stellte Dr. Ulrike Schulz vom Referat für Arbeit und Wirtschaft der Stadt München vor. Die Stadt München, ebenfalls assoziierter Partner des Projektes, arbeitet auf Grundlage eines umfangreichen, im Detail ausgearbeiteten und mit erheblichen kommunalen Mitteln unterlegten Gesamtintegrationsplans. Eine solche von der Stadt München finanzierte Maßnahme stellte Monika van Waveren, Kolping Bildungsagentur München vor, das Jugendliche und Betriebe bei den ersten Schritten in der betrieblichen Ausbildung begleitet und berät. „Integration endet nicht mit dem Ausbildungsvertrag“, hob van Waveren hervor. Durch Vermittlung bei unterschiedlichen Missverständnissen, Unterstützung besonders im theoretischen Teil der Ausbildung und allgemeine Beratung könne die Abbruchquote von Auszubildenden mit Migrationshintergrund erheblich gesenkt werden. An letzteren Punkt knüpfte Angela Sedlmaier, Handwerkskammer Niederbayern-Oberpfalz, an. Sie betonte, dass Auszubildende mit Fluchthintergrund mit circa 18 Prozent eine nur unwesentlich höhere Abbruchquote in der Ausbildung haben als Jugendliche ohne diesen Hintergrund. Dies gelte, obwohl viele Jugendliche auch in anspruchsvollen Berufen wie dem KFZ Mechatroniker ausgebildet würden. Die Handwerkskammer unterstützt die Integration in Ausbildung unter anderem mit einem neuen Leitfaden für Betriebe, der interkulturelle Aspekte in der Ausbildung anspricht.

Dr. Ayse Beyazova, Bilgi Universität Istanbul, schilderte die Lage junger Geflüchteter in der Türkei. Sie betonte, dass die Türkische Gesellschaft hier mit über zwei Millionen. Geflüchteten mit einer erheblichen Herausforderung konfrontiert sei, die ohne das Engagement der zahlreichen zivilgesellschaftlichen Organisationen, insbesondere in der Metropole Istanbul nicht zu bewältigen sei.

Das besondere Interesse der Anwesenden fand der Beitrag einer Projektgruppe junger Geflüchteter, die unter Leitung von Mohamed Hajmohammed ihre Fluchterfahrungen aufgearbeitet hat und nun zunehmend anderen jungen Geflüchteten mit Rat zur Seite steht. „Wir wollen lernen“ betonte die Gruppe, die sich zum Teil hohe Bildungs- und Berufsziele gesetzt hat. Die Gruppe wies darauf hin, dass sie für jede Ermutigung und Unterstützung auf diesem Weg dankbar sei. Es gebe unter den Jugendlichen eine hohe Zahl besonders leistungsfähiger und leistungswilliger Menschen mit einem hohen Potenzial, wertvolle Beiträge zur deutschen Gesellschaft leisten zu können. Der bisher äußerst erfolgreiche Bildungsweg der jungen Geflüchteten an Gymnasium und in anspruchsvollen Ausbildungen sowie im Studium zum Realschullehrer belegte diese These.

Im zweiten Teil der Veranstaltung berichteten die Experten von guten Praktiken zur insgesamt stärker diversitätsfreundlichen Ausgestaltung des Bildungssystems. Diese Praktiken werden im Erasmus+ Leitaktion drei geförderten Projekt „Roma und Migranten in Schulen“ (2017-2019) in fünf Ländern gesammelt und zu einem Gesamtmodell synthetisiert und hinsichtlich Vorschlägen zu einer Reform der Lehreraus- und Weiterbildung ausgewertet.

Alexander Krauß, ISOB, wies in seiner Einführung darauf hin, dass Integration nicht mehr als Integration in eine als feststehend gedachten deutschen Mehrheitsgesellschaft gedacht werden dürfe. Insbesondere in den städtischen Ballungsräumen sei die Jugend in ihrer Mehrheit migrantisch und Diversität nach Herkunft, Sprache und Kultur die neue Normalität. Die Europäische Union bezeichne in ihrer „Pariser Erklärung“ „Zusammenhalt in Vielfalt“ als das Rahmenkonzept neuer, ganzheitlicher Schulen, die eng mit ihrer Stadtgesellschaft, Vereinen, Initiativen, Eltern und Betrieben zusammenarbeite. Krauß wies darauf hin, dass es zwar auch in Deutschland zahlreiche Initiativen gebe, die dieses Rahmenkonzept umsetzten. So finde etwa die in der Pestalozzi Grundschule, die vom Projekt bereits 2017 besucht wurde, gelebte Miteinander internationale Beachtung. Auch städtische Initiativen wie die Sprachmittlerinitiative „InMigraKID“ werden im Ergebnisbericht als gute Praxis zur Nachahmung empfohlen. Insgesamt jedoch sei das deutsche Schulbildungssystem, insbesondere im Bereich der Grundschule, im internationalen Vergleich stark unterfinanziert, wie Krauß anhand von Zahlen der OECD belegte. Gemessen am Anteil am Bruttosozialprodukt stehe Deutschland unter den OECD Ländern sogar an letzter Stelle.

Dennoch gute Integrationserfolge resultieren unter anderem aus einem starken Engagement der Lehrerinnen und Lehrer. Zu betonen sei hier insbesondere die emotionale Kompetenz und eine genuin pädagogische Herangehensweise, die nicht zuerst auf den Lerninhalt, sondern zunächst auf die Bildung der Gesamtpersönlichkeit der Kinder achte. Darauf wies die Pädagogin Cornelia Merl hin. Sie hat mit Esther Burkert (SoWiBeFo e. V.) ein Fortbildungskonzept zur Stärkung von Lehrerin im Umgang mit Traumatisierungsphänomenen bei Kindern entwickelt.

Wichtig zur Umsetzung des Konzeptes einer in ihrer Umgebung gut verankerten Schule ist auch die Zusammenarbeit mit migrantischen und Minderheitencommunities. Dr. Andrei Koren, ehemaliger Vorsitzender des Verbandes der Schulrektoren in Slowenien und ehrenamtlich in der Arbeit mit Roma in diesem Land engagiert, stellte das Konzept der Roma Schulmediatoren vor. Manina Ott vom Bayerischen Jugendring schilderte Beispiele der Ausbildung von Mediatoren aus der Gruppe der Geflüchteten, die zukünftig verstärkt Jugendliche mit Fluchthintergrund zur Selbstorganisation und Beteiligung an der Jugendarbeit gewinnen sollen.

Ein weiteres Beispiel, welche Rolle das emotionale Ankommen für den Erfolg in Schule und Ausbildung hat, gab eine Projektgruppe am Beruflichen Schulzentrum des Landkreises Regensburg unter Leitung von Dr. Barbara Neuber. Nach der Methode „Photo Voice“ und „Schreibwerkstatt“ entwickelten Jugendliche vor allem aus Afrika hier sehr rasch eine beeindruckende Sprach- und Ausdrucksfähigkeit in Deutsch und nutzte diese dazu, ihre Fluchtgeschichte, aber auch ihre Pläne für eine Zukunft in Deutschland aufzuarbeiten.

Abschließend diskutierten Sieglinde Glaab, Schulrätin a. D. sowie Dr. Andrej Kore, (National Institute for Leadership in Education, Slowenien), welche „neuen“ Kompetenzen Lehrerinnen und Lehrer angesichts des veränderten Schulpublikums brauche. Beide verwiesen auf die Notwendigkeit einer konzentrierten Schulentwicklung und Leitung. Neue Herausforderungen müssten klar definiert und in einem abgestimmten Prozess in die tägliche Schulpraxis umgesetzt werden. Da die in den letzten Jahren extremen Belastungen in den meisten Schulen bereits derzeit die Lehrer extrem im Alltag belasten, sei dies eine besondere Herausforderung, die dennoch bewältigt werden müsse. Voraussetzung erfolgreicher Lehre sei jedoch, dass man die neue Situation akzeptiere und nicht als „Störung“ eines „normalen“ Schulbetriebs begreife. Letztere Haltung führe unweigerlich zu zusätzlichen Belastungsgefühlen.

In der Diskussion äußerten Lehrerinnen aus Berufsintegrationsklassen der Berufsschulen die Sorge, dass die Weiterbeschäftigung zahlreicher, in befristeten Verträgen eingestellter Lehrer gefährdet sei.

Insbesondere für Geflüchtete sei der Erhalt stabiler persönlicher Bezüge und Bindungen eine wichtige Voraussetzung der persönlichen Stabilisierung. Alexander Krauß fasste die wesentlichen Ergebnisse der Impulse aus den Vorträgen zusammen: eine bessere materielle Ausstattung, mehr pädagogisches Personal und eine umfassende Konzeption von Schule, die für viele ressourcenarme Kinder und Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund die Ressourcen ersetzen müsse, die die Familien nicht bieten können, seien Erfolgsbedingungen für einen höheren Schulerfolg von Migranten und Geflüchteten. Deutschland habe hier zahlreiche gute Praktiken zu bieten, die aber konsequenter in ein tragfähiges Gesamtsystem umgesetzt werden müssten. Hier müssten die Kommunen Vorreiter sein, da bei ihnen die Probleme zuerst ankommen, aber auch schneller und flexibler bearbeitet werden können, als auf nationaler Ebene.

Regensburg