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Suizid zweithäufigste Todesursache bei Jugendlichen – Projekt am BKH erforscht Ursachen

20.11.2018 | Stand 03.08.2023, 23:32 Uhr
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Die Zahl der Jugendlichen, die sich selbst Verletzungen zufügen, steigt seit Jahren. Professor Romuald Brunner, neuer Ärztlicher Direktor der medbo Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik (KJPP), erforscht die Ursachen.

REGENSBURG Schrecklich, aber wahr: Suizid ist die zweithäufigste Todesursache bei Jugendlichen, direkt nach Verkehrsunfällen. Oft steht der Suizid am Ende einer Reihe von selbst zugefügten Verletzungen. Fast ein Viertel der Jugendlichen kratzt, verbrüht oder beißt sich gelegentlich. „Am häufigsten aber ritzen sich die betroffenen Teenies, vor allem an Arm- und Handgelenken“, sagt Prof. Dr. Romuald Brunner, der seit Juli die KJPP in Regensburg leitet. „Doch zu selbstschädigendem Verhalten gehören auch hoher Alkoholkonsum oder Drogenmissbrauch“, so der Kinder- und Jugendpsychiater.

Was oft als vorübergehende Phase abgetan wird, kann unter Umständen in Selbstmord gipfeln. In einer Befragung unter 15- bis 19-Jährigen gaben fast acht Prozent an, bereits einen Suizidversuch unternommen zu haben. Prof. Dr. Brunner rechnet mit einem weiteren Anstieg dieser seit Jahren wachsenden Zahl. Umso erschreckender ist es, dass nur wenige wissenschaftlich überprüfte Therapiekonzepte für selbstschädigendes Verhalten existieren. Noch bedenkenswerter: Bis jetzt nehmen die wenigsten der Teenager professionelle Hilfe in Anspruch. Dabei könnte ein frühes Eingreifen verhindern, dass Probleme chronisch werden.

Warum tun sich junge Menschen etwas an?

„Jugendliche berichten oft von Gefühlen wie Einsamkeit, Leere oder einer starken inneren Anspannung. Das Ritzen scheint diese negativen Emotionen abzumildern“, sagt Romuald Brunner. Oft liegen psychische Probleme vor, etwa Depressionen oder Angststörungen. „Zerrüttete Familienverhältnisse und Mobbing, etwa durch Schulkameraden, können eine weitere Ursache sein“, so der Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie Regensburg.

Auch die Neurobiologie spielt eine Rolle. „Mit der Pubertät durchläuft das heranreifende Gehirn eine besonders sensible, störungsanfällige Phase“, sagt Professor Brunner. Nicht umsonst beginnt die Hälfte aller psychischen Erkrankungen um das 14. Lebensjahr.

Das Gehirn reift nicht im Gleichschritt

Professor Brunner erforscht die Rolle des Gehirns bei selbstschädigenden Handlungen. In der Pubertät reifen die Regionen des Gehirns unterschiedlich schnell. Der Teil, der für die Emotionsverarbeitung zuständig ist, arbeitet besonders intensiv – ganz anders als der Bereich für die Impulskontrolle. „Im Endeffekt kochen die Gefühle hoch, aber das Gehirn hat noch nicht gelernt, dies zu bremsen“, so Brunner. „Das Selbstverletzen scheint ein Versuch zu sein, die Gefühle wieder unter Kontrolle zu kriegen.“

Was genau im Kopf der Kinder passiert, muss noch weiter untersucht werden. Dafür stehen Methoden wie Kernspin, Hormon- und Genanalysen oder psychologische Tests zur Verfügung. Neurobiologische Marker, etwa Botenstoffe oder Gene, könnten zur Früherkennung genutzt werden. Sie könnten vielleicht auch helfen zu erklären, wie Psychotherapie und Präventionsprogramme wirken und welche Heilungsansätze am effektivsten sind.

„Meine Hoffnung ist, dass wir mit unserer Forschung dem Thema auch das Stigma nehmen“, so Brunner. Er hofft, dass sich Eltern eher an einen Arzt wenden, wenn ihnen klar ist, dass das Selbstverletzen nicht aus pubertärem Trotz geschieht, sondern neurochemische Prozesse zur Ursache hat.

Familie, Schule, Freunde: Alle sind gefragt

Bei psychischen Erkrankungen in Kindheit und Jugend spielt das Umfeld eine tragende Rolle. Darum liegen dem Chefarzt Hilfen abseits der Medizin am Herzen: „Kinder verbringen einen Großteil ihrer Zeit in der Schule und sind dort unter Gleichgesinnten, den sogenannten peers“, sagt Brunner. Schulbezogene Präventionsprogramme nähmen daher eine wichtige Rolle bei der Früherkennung und Frühbehandlung von selbstschädigendem Verhalten ein.

Für den Heilungsprozess holt die KJPP Familie, Schule und Freunde mit ins Boot. „Uns ist eine ambulante Therapie lieber als ein stationärer Aufenthalt, da wir die Teenies dabei nicht aus ihrem sozialen Umfeld reißen müssen“, erklärt Brunner. „Ein Grund mehr, warum die medbo eine dezentrale, patientennahe Versorgung vor Ort realisieren will.“

Dass der seit Jahren steigende Bedarf an psychiatrischen Angeboten auch weiterhin gedeckt wird, dafür möchte sich Professur Romuald Brunner als neuer Chefarzt in den nächsten Jahren einsetzen. „Zum Wohl der Kinder braucht es Ärzte und Ansprechpartner in erreichbarer Nähe und eine Zusammenarbeit von Schulen, Psychiatern, Therapeuten, Kinderärzten und Eltern“, so der neue Chefarzt. Dann bekommen Teenies, die sich schneiden, schnell die Hilfe, die sie brauchen.

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