Rote Flora
Das erlebte unsere Polizei in Hamburg

12.09.2017 | Stand 29.07.2023, 9:32 Uhr
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Der Hamburg-Einsatz aus Sicht der Deggendorfer Bundespolizisten. Es kam zu Gewaltexzessen, die an Bürgerkrieg erinnern.

DEGGENDORF/HAMBURG Seit gut einer Woche sind die Deggendorfer Bundespolizisten wieder aus dem G20-Einsatz in Hamburg zurück in ihrem niederbayerischen Heimatstandort. Mit dem notwendigen zeitlichen Abstand gilt es nun seitens der Bundespolizeiabteilung Deggendorf zurückzublicken auf den größten Polizeieinsatz in der Geschichte Hamburgs, der auch heute noch die Nachrichten beherrscht, Polizei und Bürger gleichermaßen beschäftigt und in diversen Talksendungen kontrovers diskutiert wird.

Bereits in der letzten Juniwoche sind rund 150 Deggendorfer Einsatzkräfte in die über 800 Kilometer entfernte Hansestadt angereist, um die Aufträge in ihren zugewiesenen Einsatzabschnitten zu übernehmen. Während die Wasserwerfer- und Sonderwagen-Einheit unter der Führung von PHK Georg Königseder mit drei Wasserwerfern und einem Sonderwagen der Polizei des Landes Hamburg unterstellt waren, war eine Einsatzhundertschaft unter der Führung von EPHK Hans Fischl im originären bahnpolizeilichen Zuständigkeitsbereich eingesetzt. Ihr Auftrag war es, die Sicherheit und Ordnung auf dem Gebiet der Bahnanlagen zu gewährleisten und den Versammlungsteilnehmern eine sichere und störungsfreie An- und Rückreise zu ermöglichen, insbesondere vor dem Hintergrund der erwarteten gewaltbereiten Demonstranten.

Während die ersten Einsatztage mit der Überwachung der Bahnhöfe und des Reiseverkehrs in und um Hamburg noch relativ entspannt verliefen, wurde die Lage mit Ankunft der Staats- und Regierungschefs der G20-Staaten zunehmend angespannter. Angekündigte und genehmigte Versammlungen, Kundgebungen und Aktionen von G20-Gegnern nahmen ihren Lauf. Zehntausende von Demonstranten, u.a. auch aus europäischen Nachbarstaaten, reisten mit öffentlichen Verkehrsmitteln über den Hamburger Hauptbahnhof an und flossen zu den diversen Sammelpunkten der Kundgebungen und Aufzüge ab. Neben den vielen friedlich geprägten Demonstrationen und sehr kreativen Aktionen gegen G20, Globalisierung und Kapitalismus mit tausenden von Teilnehmern, die ihre Meinung zwar lautstark aber ohne Gewalt äußerten, kam es zu Gewaltexzessen, die an Bürgerkrieg erinnerten.

Mob hinterließ eine Spur der Verwüstung

"Welcome to Hell", übersetzt "Willkommen in der Hölle", war das Motto einer Demo, das für viele Chaoten Richtschnur werden sollte. Militante G20-Gegner rotteten sich zusammen und steckten wahllos Autos in Brand, von der Luxuslimousine bis hin zum Klein- und Familienwagen. Auch Dienstfahrzeuge der Bundespolizei in Hamburg Altona wurden demoliert und mit Molotowcocktails angegriffen, Beamte wurden verletzt. Aus den Demonstrationszügen heraus rekrutierte sich aus den ursprünglich normal erscheinenden Teilnehmern der "Schwarze Block". Schwarz gekleidet und vermummt begannen sie zu agieren. Vielerorts gingen sie mit Pflastersteinen, Eisenstangen sowie Rauchkörpern und Pyrotechnik gegen die Einsatzkräfte vor. Brennende Barrikaden, eingeschlagene Schaufenster, Plünderungen, der Mob hinterließ eine Spur der Verwüstung.

Gipfel der Gegensätze: Hier die "Ode an die Freude", dort Straßenkämpfe

Nachdem sie erst an den Messehallen zum Veranstaltungsschutz des G20-Gipfels eingesetzt waren, verlegten die Deggendorfer Wasserwerfer in dieser Phase, in den Bereich der Reeperbahn in unmittelbare Nähe der Brennpunkte. Zum Wassereinsatz kam es jedoch nicht. Die Einsatzhundertschaft, die im bahnpolizeilichen Bereich die Lage soweit im Griff hatte, verfolgte teilweise in Bereitschaft die Bilder der Kollegen, die an vorderster Front mit schonungsloser Gewalt konfrontiert waren. Jederzeit konnten auch sie zur Verstärkung und Unterstützung abgerufen werden. Aufgrund der Lageentwicklung wurden weitere Polizeikräfte aus dem Bundesgebiet angefordert. Auch ein Einsatzzug, der sich in Deggendorf als Reserve bereithielt, setzte sich in Richtung Hamburg in Marsch. Ein Fernsehsender zeigte live ein gesplittetes Bild, das die Gegensätze des Gipfels nicht besser hätte ausdrücken können: Auf der einen Seite die Staats- und Regierungschefs in der hermetisch abgeriegelten Elbphilharmonie, wie sie in sich gekehrt "Beethovens 9." und der "Ode an die Freude" lauschten, während sich auf der anderen Seite unweit Chaoten regelrechte Straßenkämpfe mit der Polizei lieferten und das Schanzenviertel in Schutt und Asche legten.

Es herrschte fast schon gespenstische Stille in der Innenstadt mit geschlossenen und verbarrikadierten Geschäften, Gaststätten und Banken aus Angst vor Sachbeschädigungen und Plünderungen. Die in und um die Hansestadt weiträumig abgesperrt Straßen waren wie leergefegt. Wären da nicht die Einsatzfahrzeuge gewesen, die Tag und Nacht mit Blaulicht und Martinshorn durch Hamburg rasten, bis zu neun Polizeihubschrauber, die gleichzeitig über der Stadt kreisten und der jeweilige Tross der Staats- und Regierungschefs sowie deren Delegationen, die in Kolonne von einem Veranstaltungsort zum anderen eskortiert wurde.

Ein weiteres Beispiel für den krassen Gegensatz des Gipfels war zum einen die enthemmte Gewalt insbesondere der autonomen Szene, zum anderen die Herzlichkeit, der Zuspruch und der Dank der Hamburger Bürger an die Einsatzkräfte. Sie boten den Polizisten Kaffee, Kaltgetränke und Süßigkeiten an, brachten Blumen für die Verletzten ins Krankenhaus, Kinder malten Bilder, Plakate mit Dankbekundungen waren vielerorts angebracht, ein dankbarer Händedruck, ein Schulterklopfen.

Der Deggendorfer Pater Gabriel, katholischer Seelsorger der Bundespolizei, kümmerte sich fast rund um die Uhr unermüdlich um alle verletzten Bundespolizisten, die im Bundeswehrkrankenhaus Hamburg ambulant oder stationär behandelt wurden (insgesamt wurden rund 500 Polizisten verletzt, darunter 108 Bundespolizisten).

Auch wenn den Deggendorfern der Einsatz direkt an den Orten der Gewaltexzesse erspart und es bei einzelnen Festnahmen im Rahmen der An- und Abreise blieb, nehmen sie doch Bilder eines Einsatzes mit, dessen Dimensionen sie bislang noch nie erlebt haben und die es zu verarbeiten gilt. Ebenso wird der eindringliche Satz: "Passt auf Euch auf!", der persönlich, über Funk oder Telefon von Passanten, Kollegen oder Angehörigen übermittelt wurde, in Erinnerung bleiben.

Nach zwölf Tagen enorm hoher Einsatzbelastung mit Schichtzeiten weit über zehn Stunden hinaus in Körperschutzausstattung, Helm und Bewaffnung, sind alle rund 180 Deggendorfer Einsatzkräfte wieder wohlbehalten in der Abteilung angekommen. Nicht selten wurden die Polizisten während des Einsatzes von den Hamburger Bürgerinnen und Bürgern gefragt: "Warum muss der Gipfel ausgerechnet in Hamburg stattfinden?"

Zu einer politischen Stellungnahme ließen sich die Beamten nicht hinreißen. Nur soviel sei gesagt: "Was die Politik auch immer entscheidet, die Polizei hat den Auftrag die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten … ohne Wenn und Aber."

Fotolegende:

Foto 1: Die Deggendorfer Wasserwerfer im Bereich Reeperbahn Foto 2: Die Deggendorfer Wasserwerfer im Zusammenspiel mit weiteren Polizeikräften Foto 3: Die Wasserwerfer- und Sonderwagen-Einheit bei der Einsatzbesprechung im Bereitstellungsraum Foto 4: Ein Symbolbild für die Nacht der exzessiven Gewalt. Der Eingang zum Schanzenviertel am S-Bahnhaltepunk Sternschanze Foto 5: Deggendorfer Einsatzkräfte am Hauptbahnhof Hamburg Foto 6: Festnahmen am Hauptbahnhof durch Deggendorfer Einsatzkräfte Foto 7 Durchsuchungsmaßnahmen durch Deggendorfer Kräfte am Hauptbahnhof Foto 8 Beschädigtes Dienstfahrzeug der Bundespolizei in Hamburg Altona Foto 9 Beschädigtes Dienstfahrzeug der Bundespolizei in Hamburg Altona Foto 10 Dienstfahrzeug der Bundespolizei in Hamburg Altona-getroffen von einem Molotowcocktail Foto 11 Die "Rote Flora" im Schanzenviertel, besetzt seit 1989, in Hamburg Kult. Autonomes Zentrum und rechtsfreier Raum, Ausgangspunkt u.a. für politisch motivierte Aktivitäten radikaler Linker Foto 12: Geplünderter Supermarkt im Schanzenviertel Foto 13: Schanzenviertel: Herausgerissene Pflastersteine, mit denen Polizisten und Einsatzfahrzeuge beworfen wurden Foto 14: Schanzenviertel am Tag danach: noch glühende Barrikaden Foto 15: Protest an Gebäuden im Hafenviertel Foto 16: Protest gegen G20 Foto 17: Kreativer, friedlicher Protest im Bereich Hamburger Hafen Foto 18: "Lieber tanz ich als G20"-eine Protestkundgebung formiert sich an den Landungsbrücken Hamburg Foto 19 Pater Gabriel als Seelsorger und Mutmacher im Bundeswehrkrankenhaus Hamburg Foto 20 Visite im Bundeswehrkrankenhaus mit Bundespräsident Steinmeier und Hamburgs Erstem Bürgermeister Scholz Foto 21: Blumen, die im Krankenhaus für verletzte Polizisten abgegeben wurden Foto 22: Brennende Autos in Hamburg Altona Foto 23: Post aus dem hohen Norden: Hamburger Bürger bedanken sich bei den Deggendorfer Einsatzkräften auf Ansichtskarten. 

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