Die etwas andere Kolumne von Mike Schmitzer
Mysteriöses Lehrerzimmer

23.11.2017 | Stand 31.07.2023, 12:32 Uhr
−Foto: n/a

Was machen eigentlich die Lehrer in ihrem Lehrerzimmer?

Wir liegen im Gras, der Hansi, der Lenze und ich, die Augen in den Himmel gerichtet, und quatschen über Dinge, die Zehnjährige eben so beschäftigen.

Es ist 1974, das Jahr nach der Ölkrise. Die Nachrichten werden beherrscht von der Watergate-Affäre und dem Rücktritt des amerikanischen Präsidenten Richard Nixon.

Aber das waren natürlich nicht unsere Themen. Wir machten uns Gedanken darüber, ob Christine noch mit Lenze „geht“, obwohl sie ihn in der Pause mit Missachtung gestraft hat, und darüber, wie viele Panini-Päckchen mit Klebebildern wir wohl noch kaufen müssten, um unsere Sammelalben „WM München 74“ vollzubekommen. Soweit ich weiß, hat das keiner von uns jemals geschafft ...

„Was glaubt ihr eigentlich, was hinter der Tür des Lehrerzimmers passiert?“ fragt Hansi.

Das Lehrerzimmer! Das war einer dieser mystischen Orte meiner Kindheit. Weil den Schülern der Eintritt verboten war, rankten sich die tollsten Geschichten um dieses Zimmer hinter der hohen weißen Tür.

Der Fritzi, ein Klassenkamerad, will einmal beobachtet haben, wie eine Lehrerin ein Mädchen aus der Parallelklasse in das Lehrerzimmer hineingezogen hat. Das Mädchen sei nie wieder aufgetaucht. Fragte man Fritzi nach dem Namen der Schülerin, zuckte er nur mit den Schultern. Grundsätzlich traute man als Zehnjähriger den Lehrern ja alles zu. Aber das überstieg selbst unsere kühnsten Fantasien. Konnte es wirklich sein, dass im Lehrerzimmer unfolgsame Schüler gefangen gehalten werden? Und wovon sollten sich die Gefangenen ernähren? Etwa von Kaffee?

Es war Hansi, der mit der These daherkam, das Lehrerzimmer sei so etwas Ähnliches , wie der Partykeller seiner Eltern. Da durften auch keine Kinder hinein, zumindest nicht, wenn eine Party im Gang war.

Der Hansi wusste aus eigener Beobachtung, dass alle Partygäste, die zum „bisln“ hochkamen, genau so gerochen hätten, wie die Blätter, die uns die Lehrer immer austeilten.

Lenze fügte ein weiteres Puzzleteil hinzu: Das sei der Geruch von Alkohol. Sein Opa würde nämlich immer ein Stamperl Schnaps nach dem Mittagessen trinken und genauso würden diese Blätter riechen.

Mit detektivischem Spürsinn kombinierten wir daraus, dass die Lehrer in ihren freien Stunden im Lehrerzimmer Partys feiern und sich betrinken würden. Die kopierten Blätter würden dann zwangsweise den Alkoholgeruch annehmen.

Seit dieser Erkenntnis wollte keiner von uns mehr an den frisch ausgeteilten Blättern schnüffeln, obwohl das vorher eine Lieblingsbeschäftigung im sonst nicht sehr erfreulichen Schulalltag war.

Das Gerücht mit den Lehrerpartys wurde auf dem Pausenhof hinter vorgehaltener Hand weitergetratscht und hielt sich mehrere Wochen an unserer Schule - bis Hansi einmal vom Mathelehrer gebeten wurde, beim Kopieren zu helfen.

„Die Blätter kommen aus einem großen Gerät, das Matrizendrucker heißt“, erklärte Hansi, „und der Geruch ist nicht der von Alkohol, sondern von Spiritus.“

Während er an der Maschine stand und kurbelte, konnte Hansi beobachten, wie die Lehrer Bücher lasen, sich unterhielten oder Kaffee tranken.

„Keine Party?“

„Keine Party“, sagte Hansi bestimmt.

Das erklärte aber noch immer nicht das Verschwinden der Mitschülerin ...

Altötting